Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Dienstag, 28. März 2017

Lichtgrüner Wagen



Am Morgen gehe ich über die Ringstraße. Ich passiere das Theater. Und erreiche einige Minuten später ein Palais. Das ist der Ort, wo ich arbeite. Seit Jahren schon. Meine Kanzlei ist sehr weitläufig. Ich schätze die hohen Decken. Und die Kühle. Die das alte Gemäuer spendet. Jetzt besonders, da es draußen unerträglich heiß ist. Selbst wenn ich zwischendurch die Fenster öffne, um ein bisschen die Stadt hinein zu lassen, bleibt es angenehm kühl in meinen Räumen. Seit einigen Tagen ist es hier jedoch anders. Wenn ich morgens mein Arbeitszimmer betrete, steht mitten im Raum ein Wagen. Es ist ein Gefährt, das mich an einen Zirkuswagen erinnert. Es ist lichtgrün. Und strahlt. Da mein Arbeitszimmer weitläufig ist, nimmt der Wagen nicht die gesamte Fläche ein. Aber er ist eben da. Der Wagen. Ich bin schon einige Male um ihn herumgegangen. Und habe an seinen Außenwänden gelauscht. Ich möchte wissen, ob da irgendetwas ist. Im Innern des Wagens. Bisher war es immer ganz still. Mir fällt es seit der Ankunft des lichtgrünen Wagens schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Die Schriftsätze erfordern äußerste Konzentration. Ich jedoch habe die Befürchtung, dass mir jetzt Fehler unterlaufen. Oder möglicherweise schon unterlaufen sind. Und sich dies unvorteilhaft auswirken wird. Auf mich. Und meinen Ruf. Der bisher tadellos war. Neuerdings sitze ich an meinem Schreibtisch. Und blicke immer wieder auf. Zum Wagen. Und ich bin unruhig. Und tatsächlich: Ich liege richtig. Mit meinem Gefühl. Denn jetzt öffnet sich die Tür. Des Wagens. Und heraus kommt etwas Lichtgrünes. In der Form eines Balkens. Der Balken ist etwa so groß wie ich. Nur eben schmaler. Und da sind auch keine Gliedmaßen (ich sehe weder Arme noch Beine). Er hat auch keinen Kopf. Dann höre ich eine Stimme. Die sehr angenehm klingt. Ganz menschlich. Und sie sagt: Ich bin komprimiert. Und der Balken kommt auf mich zu. Und er lehnt sich über die Akte. Wenige Sekunden später öffnet sich der Balken. Kurz nur. Und es fällt ein Zettel heraus. Er landet direkt vor mir. Auf meinem Schreibtisch. Aus dem Balken spricht es: Kernsatz. Und auf dem Zettel steht in der Tat der Satz, der den gesamten Sachverhalt meiner Akte zusammenfasst. Prägnant. Und schlüssig. Eine Viertelstunde später sind alle Kernsätze gefunden. Und formuliert. Für alle Akten, die ich zu bearbeiten habe. Und so gehe ich aus dem Büro. In ein Kaffeehaus. Trinke eine Melange. Und verlasse dann die Stadt. In einem lichtgrünen Wagen.  

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