Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 31. Oktober 2021

Blattwerk

 
Es ist November.
Und wieder gehen wir in die Parks und Wälder -
wie jedes Jahr.

Das Licht scheint schon rau.

Mit Körben beladen,
schwärmen wir aus.
Zwischen stelzigen Bäumen sammeln wir
Laub und Zapfen.

Sie sind uns Signal.
Es wird Winter.
Und wir gravieren uns seine ersten Laute in die Haut,
bis unser Fell erwacht.


Sonntag, 24. Oktober 2021

Denkfabrik

 

Ich komme direkt auf das große Fenster zu. Das Gebäude verläuft hier bogenförmig. Und obwohl die Scheibe getönt ist, fällt mein Blick wieder auf den sperrigen Gegenstand, der an der vorderen Säule lehnt. Vielleicht ein Schneeschieber, denke ich und gehe weiter. Jetzt bin ich am Eingang. Über der breiten Tür prangt ein Schriftzug. Und auch heute bleibe ich davor stehen, um ihn mir anzusehen. Es ist wie jeden Tag, denke ich:  Den einen Teil vergesse ich. Den anderen Teil behalte ich. Immobilie bleibt. Dieses Wort geht nicht. Wie sollte es auch, unbeweglich wie es ist. In diese Anblicklethargie fällt ein Gedanke, und ich gehe ein paar Meter zurück zur Scheibe. Der sperrige Gegenstand steht jetzt inmitten einer Wasserlache. Und da ist noch etwas: Weiße Schollen unten am metallischen Schieber. Vielleicht ist das Schnee, denke ich. Aber wir haben erst Ende Oktober und draußen bestimmt zehn Grad.

Ich gehe wieder zum Eingang. Die Tür öffnet automatisch. Etwas weiter hinten ist eine gläserne Kabine. Der Pförtner darin trägt einen weißen Anzug. Alles hier ist schon viel weiter, denke ich. Möglicherweise liegt es am Licht, dass ich so denke. Ich halte kurz inne. Eigentlich weiß ich, dass das Licht wenig damit zu tun hat. Dann gehe ich direkt auf die Scheibe zu. Der Pförtner sieht mich an. Er mustert mich, als suchte er nach einem Anhaltspunkt. Wahrscheinlich fragt er mich gleich nach meinem Dienstausweis. Dann drückt er einen Knopf und spricht in ein gräuliches Mikrofon. „Haben Sie einen Termin?“ „Ich bedaure, nein.“ „Ok. Ich kann Ihnen drei Optionen anbieten. --- Unsere Finanzierungsabteilungen sind: Eins für Häuser. Zwei für Inseln. Drei für Höhlen. Wo darf ich Sie anmelden?“ „Noch einmal, bitte.“ „Eins für Häuser. Zwei für Inseln. Drei für Höhlen. Wo also darf ich Sie anmelden?““  „Bei Eins, bitte.“ „Also konventionell?“ Ich nicke. „Warten Sie. Ich öffne Ihnen. Im nächsten Raum finden Sie alles, was Sie für die nächsten Schritte brauchen. Gehen Sie dann einfach immer geradeaus.“

Ein Surren ertönt. Dann fällt die Tür hinter mir zu. Ich stehe in einem weiß gekachelten Raum. An der Wand vor mir hängen Daunenjacken. Sie sind der Größe nach geordnet. In einem deckenhohen Metallregal stehen Schneeboots. Ich nehme mir passende Stiefel und eine Jacke. Dann folge ich dem Gang. Es wird merklich kälter, und ich ziehe meine Ausrüstung an. Schließlich stehe ich vor einem Rolltor, das sich nun langsam öffnet. Alles dahinter ist weiß. Meine Augen müssen sich erst an das blendende Licht gewöhnen.

Ich bin am Rande eines riesigen Schneefelds. In einiger Entfernung sehe ich unzählige Schreibtischreihen. Überall sitzen Menschen. Sie arbeiten hinter Schreibmaschinen. Diese hier machen keine Geräusche, denke ich. Auf allen Tischen stapelt sich Papier. Ich gehe näher heran. Plötzlich taucht etwas auf – ganz still ist es jetzt neben mir. Ich betrachte es. Ein Apparat, denke ich, und schon beginnt er zu arbeiten. Dann öffnet sich ein Fach, und ich nehme einen Zettel heraus. Es ist eine Wartenummer: 334.

Wenige Minuten später blinkt meine Nummer auf einer Tafel mitten im Schneefeld auf. Ich gehe zu Platz 4. Dort sitzt ein Mann in einem weißen Anzug hinter seinem Schreibtisch. Er nickt mir zu und fordert mich dann mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Mein Blick fällt auf sein Namensschild. Den einen Teil vergesse ich. Den anderen Teil behalte ich. Immobilie bleibt. Dieses Wort geht nicht, wie sollte es auch, unbeweglich wie es ist. In diese Anblicklethargie fällt seine Frage. „Also Häuser?“ Ich nicke. „Bedaure. Hier liegt alles auf Eis. Alles. Und alle. Also auch ich.“ „Warum gehen Sie dann nicht?“ „Es geht nicht. Weil es noch nicht geht, denken wir. Wissen Sie, wir arbeiten hier an etwas, das wir noch gar nicht gedacht haben.“

Dienstag, 5. Oktober 2021

Wartesaal_marmoriert

Die Bänke sind aus dunklem Holz.
Wenn ich mit meinen Fingerkuppen darüber streiche, 
kommt mir die Maserung bekannt vor.
Aber mir will der Name des Baumes nicht einfallen.

Jeder sitzt hier für sich -
umschlossen von hohen Lehnen.
Wenn ich nach oben schaue,
kann ich die Decke nicht klar erkennen.
Und ringsum gibt es hohe, gelbstichige Fenster.

Sobald draußen die Sonne scheint,
wähne ich mich in einer Kathedrale.

Ich lebe schon lange hier.

An den Wänden hängen unzählige Uhren -
große und kleine.
Doch etwas ist mit ihnen.
Es sind zerflossene Uhren -
ausgelaufen und dann geronnen.

Ich lebe in einem Wartesaal -
umgeben von geronnener Zeit.
Wenn ich eine der Uhren berühre,
haftet sie an mir.

Mein Zug wird nicht kommen -
auch heute nicht.
Antwerpen. 16.08 Uhr.

Ich warte. Auch morgen noch. Immer.
Denn etwas hält mich hier.
Es sind diese Wände, auf die ich blicke -
gemacht aus dem Marmor der Zeit.