Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 30. Dezember 2021

72nd floor

 

(1)

In diesem Haus lebt jetzt ein Pfau.

Seine Augen wohnen auf jeder Etage (erzählt man sich) – bis hoch zum Dach.

Blickt man in eines seiner Augen,

so steht man augenblicklich auf einer Lichtung.

Dort ist es gleißend hell –

und etwas geschieht mit den eigenen Augen.

Sieht man länger hin,

so lösen sich die Nähte zwischen den Dingen ringsum,

sodass alles ganz fransig wirkt.

 

(2)

Mit dem Lift gelangt man ganz nach oben auf das Plateau des Hauses –

die zweiundsiebzigste Etage.

Auch hier ist jetzt eine Lichtung.

Und von irgendwo noch weiter oben fällt Industrieschnee in unser Gefieder (es ist Sommer),

der gewiss auch den Pfau erreicht –

der ja wir ist, sagen die Augen.

Samstag, 25. Dezember 2021

Glasohrenspiel

 

Ich lebe in einem Fenster.

Wenn es draußen dunkel wird,

schlürfe ich bretonische Austern –

und nehme Anrufe entgegen.

Überall hier (und hier ist eine Shopping Mall)

hat man Lautsprecher installiert,

sodass die Gespräche, die ich führe,

auf allen Etagen zu hören sind.

 

Immer mehr Menschen kommen hierher,

um (unter Neonröhren sitzend) meinen Telefonaten zu lauschen.

 

Alles ist live.

 

Und wieder ist tiefste Nacht. Meine Hörerschaft bleibt.

 

Über das Fenster, in dem ich lebe, ist ein Netz gespannt.

Das hilft mir beim Denken und strahlt Ruhe aus.

Bevor die Anrufer zu mir durchgestellt werden und ich die Austern schlürfe,

esse ich etwas Kirschrotes.

Meine Stimme nimmt dann diese Farbe an.

 

Das Telefon klingelt.

Schon plaudern wir über Lemuren.

Und sogleich verglast man unser Gespräch.

Es soll keine Fährte geben,

die zum Fenster führt.

Donnerstag, 23. Dezember 2021

Aufzeichnung

 

Wir sind jetzt in den Wäldern.

Und man sieht uns zu.

Überall gibt es matt schwarze Kabel –

sogar in den Bäumen.

 

Manchmal taucht ein Flugobjekt auf.

Es filmt uns von oben.

 

Jetzt ist es da.

 

Gerade erreichen wir eine Lichtung.

Auf ihr steht ein Räderwerk,

das wir langsam umkreisen.

Alles greift hier ineinander –

eine Uhr jedoch fehlt.

 

Wir gehen weiter über nadelige Pfade.

Dann stehen wir am Ufer eines Sees.

Wir hören etwas:

Von einer Klippe stürzt unaufhörlich Geröll in das tiefblaue Wasser.

 

Da ist noch etwas:

Ein Turm in der Mitte des Sees.

Wir spüren,

dass er Signale sendet.

 

Sie sind deutungslos.

 

Auf unseren Displays notieren wir Fragen und schicken sie an den Turm.

 

Eine Antwort bleibt aus.

 

Wind kommt auf.

Und das Wasser tost.

Es treibt uns zurück zum Räderwerk auf der Lichtung,

das jetzt rückwärts läuft.

 

Unsere Körper auch.

 

Dann sind wir wieder am Rande des Walds -

dem Ausgangspunkt -

wo man uns steinerne Uhren zeigt.

Sonntag, 19. Dezember 2021

Süßschnee

 

Wir essen jetzt Schnee,

den wir auf Fenstern,

Dächern und Eisflächen finden.

Er schmeckt süß -

süßer als süß.

Wir sind süchtig danach.

 

Unser Blick wird ganz starr.

Er kennt nur noch eine Richtung –

die des Schnees.

Alles andere scheint für die Augen verloren.

 

Nachts legen wir Vorräte an.

In felsigen Kammern schichten wir Schnee.

Das ist die Jungsteinzeit (denken wir) -

und bringen an der Tür ein Siegel an.

 

In den Tiefen unserer Münder lassen wir es jetzt schon Sommer sein – und eine tiefe Unruhe befällt uns.

Aber noch ist Zeit -

noch sechs Monde

 

Ein Gedanke treibt uns um:

Vielleicht wird der Schnee in den Kammern im Sommer schon zu Staub geworden sein.

In unseren Häusern werden wir dann Flockiges essen.

Es schmeckt trocken und fade -

und windet sich wie Fäden um unsere Zungen.

Der Schnee entzieht sich uns.

Kalter Schweiß und zittrige Hände.

 

Wir werden uns den Winter holen!

 

Draußen im Gebirge zündet man einen Vulkan.

Nichts als graue Aschewolken –

bis der Himmel erkaltet.

Es ist Ende April.

 

Wir warten.

Aber der Schnee bleibt fern.

Der Schnee bleibt aus –

wohl Myriaden Monde lang.

 

Und seine Wurzel versteckt er seither im süßen Grau der Asche.