Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 30. Juni 2016

Suchlauf



Ich habe etwas verloren. Im Wald. Ich weiß nicht, was genau. Was es ist. Da ist nur dieses Gefühl. Eines Verlustes. In mir. Ich ahne, dass ich etwas verloren habe. Im Wald. Und so mache ich mich auf. Zurück. In den Wald. Den ich vor einigen Stunden durchwandert habe. Es ist ein dichter Tannenwald. Die Wege sind ganz weich. Und federnd. Es gibt Moos. Sternmoos. Und an einigen Stellen wächst Farn. Ich folge dem Hauptweg. Die Liste der möglichen Verluste ist lang. Im Wald. Ich denke an Ringe, Knöpfe, Schlüssel, Ketten, Telefone und Fotoapparate. An Handschuhe und Uhren. Münzen und Zigarettenetuis. Mir kommt der Gedanke, dass der Wald einen Magen hat. Und die ganzen verlorenen Gegenstände dort sind. Halb verdaut. Oder der Wald eine Wunderkammer eingerichtet hat. Eine Kuriositätensammlung. Aus Verlustobjekten. Jeglicher Art. Ich biege ab. Und gehe auf einem Nebenweg weiter. Ich erinnere mich gut. Hier bin ich gewesen. Aber mein Blick ist jetzt anders. Anders als vorhin. Weil ich ja etwas suche. Etwas wiederfinden möchte. Irgendwo. Hier. Auf dem Waldboden. Und dann sehe ich, dass die Tannennadeln Buchstaben sind. Ich lese. Ich lese den Text. Das ist wie ein Band. Ein Spruchband. Und während ich lese und sich die Wörter zusammensetzen zu einem Netz, weiß ich plötzlich, was ich suche. Und was ich gefunden habe. Ich steige ins Netz. In das Netz aus Wörtern. Das sich jetzt aufspannt. Zwischen den Bäumen. Quer über den Weg. Es ist ein großes Netz. In dem ich hier bin. Und herumklettern kann. Bei jedem Schritt gibt es eine neue Verbindung. Im Netz. Es sind Brücken. Brückenschläge zwischen den Wörtern. Ich habe jetzt neue Wörter. Vor mir. Und um mich. Es müssen hunderte sein. Und das Netz wird immer engmaschiger. Dichter. Und feiner. Bis es gegen Abend zu einer Wand geworden ist. Die sich dann schließt. Die Wand steht jetzt woanders. An einem anderen Ort. Und ich verschiebe diese Wand. Seither. Denn hinter ihr ist etwas. Es ist immer das, was ich suche.      

In den Schränken



Ich bin zum Möbelhaus gefahren. Und habe mich in einen Schrank gesetzt. Der Schrank ist weiß. Und sehr geräumig. Sodass ich gut hineinpasse. Ohne irgendwo anzustoßen. Ich sitze frei. Frei im Schrank. Es dauert nicht lang, und die Schranktür öffnet sich. Vor mir steht jemand. Auf Hüfthöhe. Ich muss ein  bisschen nach oben schauen. Um das Gesicht zu sehen. Ich sehe nichts. Denn die Tür wird direkt wieder zugemacht. Sehr schnell. Und es knallt. Ein bisschen. Ich lockere meine Knie. Aber schon geht sie wieder auf. Die Tür. Ein suchender Blick. Ich lache. Und es wird dunkel. Im Schrank. Ich winkle die Beine an. Jetzt wieder Schritte. Die sich nähern. Die Tür wird ganz langsam aufgemacht. Dann ein leiser Schrei. Ich möchte neutral bleiben. Neutral gucken. Wir sehen uns an. Da ist etwas Flackerndes. Im Blick. Meines Gegenübers. Können Sie mir den Schrank empfehlen? Ich antworte nicht. Die Tür schließt sich. Wieder. Ich schlage die Beine übereinander. Dann ein erneutes Öffnen. Jemand fordert mich auf, den Schrank zu verlassen. Ich gehe. In die Küchenabteilung. Um ein wenig von mir abzulenken. Dann kehre ich zurück. Zu den Schränken. Diesmal wähle einen aus Echtholz. Und öffne die Tür. Da sitzt jemand. Im Schrank. Wir sehen uns an. 

A: Warum sitzen Sie hier?
B: Ich mache eine Pause.
A: Eine Pause wovon?
B: Ich kann nicht den ganzen Tag im Restaurant sein. Und nur essen. Und trinken.
A: Ich verstehe nicht.
B: Ich bin Statist. Tagsüber. Ein Restaurantbesucher. Nachts schlafe ich in den Schränken. Wie alle. Hier.  

Mittwoch, 29. Juni 2016