Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 18. September 2019

Zeitstrom II

Vor dem Fenster wartet die Zeit.
Meistens geht sie dort auf und ab.
Manchmal verschwindet sie auch kurz in der Landschaft -
und kommt dann zurück.

Ihre Haut ist vernarbt und wettergegerbt.

Hier in meinem Turm bin ich sicher vor ihr
(und sie vor mir).
Mich ängstigt der Gedanke, irgendwann nach draußen zu müssen.
Aber der Tag wird kommen, an dem meine Vorräte zur Neige gehen.

Und noch etwas kündigt sich an:
Ich werde nackt sein.
Denn ich bin mit Stunden bekleidet, die sich langsam abnutzen.
Unterdessen zieht die Zeit weiter ihre erdige Bahn -
und trägt sich dabei selbst ab – Schicht um Schicht.

Heute habe ich Stoff in die Fenster gehängt.
Vielleicht kann ich so die Blicke der Zeit abhalten -
und mich auf den Leitern im Turm frei und unbeobachtet bewegen.

Aber schon strömt sie bis an die untere Sprosse.

Donnerstag, 12. September 2019

Auf der Allee

Ich bin jetzt zahm.
Die Vögel füttern mich.
Sie geben mir das, was ich mag.
Und ich gebe Zeichen,
von denen ich nicht weiß, ob sie verstanden werden.

Um mich herum ist alles nackt (so jedenfalls scheint es von hier).
Das, was von Zeit zu Zeit an mir vorbei galoppiert,
hat weder Fell noch Haar.
Seine Haut ist glatt und hell.
Und jetzt bemerke ich, dass sie durchsichtig ist.
Ich kann die Knochen dieses Körpers sehen.
Sie sind ganz verwinkelt angeordnet.

Es scheint mehrere Routen zu geben,
für die das Tier unterschiedlich viel Zeit benötigt.
Oder es ist der wechselnde Wind,
der es mal schneller, mal langsamer an mir vorbeiziehen lässt.

Während es seine Runden läuft, schlafe ich.
Aber seine Hufe wecken mich jedes Mal,
wenn es wieder auf meiner Höhe ist.

Unter mir ist es sandig.
Und ich sinke ein wenig ein, wenn ich mich bewege.

An zwei Stellen ringsum hat man Leitern angebracht.
Mein Blick wandert die Sprossen empor.
Aber mich ängstigt der Farn,
den ich dort oben vermute.
Und mit seinem Widerhall kleide ich meine Augen aus.

Dienstag, 10. September 2019

Stadtauswärts

Ich tauche in Silber.
Dann stoße ich auf etwas.
Es könnte die Grenze sein,
von der man mir erzählt hat.

Dahinter liegt etwas Verwildertes.

Sobald ich es betrete,
wird es in meine Augen wachsen.
Und alles wird weiß sein.

Der Wald reist dann -
in nordwestliche Richtung.
Und seine Innenwelt fragt nach etwas Blühendem.
Die Antwort klingt einsilbig.

Und ich erwache (noch während ich antworte) -
und mische mich unter die Vögel.

Freitag, 6. September 2019

Gewitter

Die Stadt schläft.
Und auf den Feldern ringsum weckt man die Zeichen.

Der Weg dort hinaus führt über verwüstetes Kopfsteinpflaster.
Von irgendwoher kommt ein Flüstern.

Es ist flüssig.

Vielleicht sind es die Gedanken der Stadt, denke ich.
Sie sickern durch die Naht -
dort, wo man die Metropole mit dem Land vernäht hat.

Schon sehne ich einen Saum herbei,
mit dem dieses Denken seinen Abschluss findet.

Ich warte.
Der Saum bleibt aus.
Aber etwas verdichtet sich.
Und die Luft hier riecht jetzt nach Fieber.