Ich vermutete sie immer in der Truhe. Die
neben dem Kamin stand. In den ganzen Jahren öffnete ich sie kein einziges Mal. Oft
legte ich Dinge darauf. Zeitschriften. Oder Bücher. Manchmal stellte ich auch
etwas ab. Auf ihr. Wenn mir das, was ich trug, zu schwer erschien. Ich lebte
allein. In diesem Haus. In meinem Haus. Aber ich war nicht allein. Denn es war
bevölkert. Von Figuren. Die auch laufen und sprechen konnten. In einer mir
fremden Sprache. Ich wusste nicht, ob sie mich bemerkten. Mich sehen oder hören
konnten. Ich sah und hörte sie jetzt gut. Das war nicht immer so. Am Anfang
waren sie Schemen. Die mich erschreckten. In meinem eigenen Haus. Dann zeigten
sich die Figuren deutlicher. Ihre Stimmen wurden klarer. Irgendwann nahm ich
sie als etwas an, das fortan dazugehörte. Zu meinem Haus. Und obwohl ich ihre
Sprache nicht verstand (im wortwörtlichen Sinn), war da immer eine Ahnung von Bedeutung,
wenn ich ihren Stimmen, ihren Gesprächen lauschte. Ich hörte Freude heraus.
Sorge. Und manchmal auch Traurigkeit. Was ich nie sah, waren ihre Gesichter. Es
waren ihre Umrisse, die ich mit der Zeit immer klarer erkannte. Aber das genügte
mir. Für mein Leben. Im Haus. Die Figuren verschwanden manchmal. Und ihr
Auftreten folgte keinem Plan. Wenn sie nicht da waren, vermutete ich sie in der
Truhe. Neben dem Kamin. Und dann regnete es. Drei Tage. Und drei Nächte lang. Die
Figuren zeigten sich nicht. Während des Regens. Und ich ging unruhig durch mein
Haus. Weil ich sie vermisste. Ich spürte immer deutlicher, was mich umschlich.
Und was ich umschlich. Es war die Truhe. Und als ich sie öffnete, war da ich.
Donnerstag, 29. Juni 2017
Halblaut
Ich bewege mich jetzt. Nur noch auf Leitern. Oder
steige Treppen hinauf. Denn zwischen jeder Sprosse, jeder Stufe tönt etwas. Ich
kenne Fließlaute. Reibelaute. Schwinglaute. Und Zitterlaute. Was sich hier in
den Zwischenräumen befindet, die ich mit meinen Füßen überschreite, sind
Halblaute. Die Schallwelle, die aus diesem Zwischenraum kommt, ist halbiert. Wenn
ich einen Halblaut höre, öffnet sich etwas. In mir. Und der halbe Laut tritt
ein. Und durchläuft meinen ganzen Körper auf der Suche nach einem phonetischen
Alphabet. Sodass er sich ergänzen kann. Zu etwas Ganzem. Ein neuer Klang. In
meinem Körper.
Mittwoch, 28. Juni 2017
22.07 Uhr
Die Zeit hakt. An diesem Punkt. Und ein
Geräusch ertönt. Jeden Abend. Um diese Zeit. Egal, wo ich bin. Ich glaube
nicht, dass andere bemerken, was mit der Zeit geschieht. Sie steht dann ganz
still. Für diesen Moment. Die Zeiger bewegen sich nicht weiter. Die Ziffern
schlagen nicht mehr um. Das gilt für jede Uhr, die ich um 22.07 Uhr betrachte.
Ich nutze diesen Stillstand. Und gleite hinein. In die Zeit. Die Null ist mein
Eingang. Manchmal gibt es auch einen Zugang zwischen den beiden Zweien. Habe
ich diesen Eingang oder Zugang passiert, bin ich hinter der Zeit. Ich habe sie
dann im Rücken. Und gehe ihr gleichzeitig entgegen. Ich weiß jetzt, dass die
Zeit orange ist. Ein helles Orange. Und wenn ich auf die Zeit zugehe, bin ich
umhüllt von dieser Farbe. Ich habe dann das Gefühl, durch einen Tunnel aus
Orange zu gehen. Auf meinem Weg kommen mir Menschen entgegen. Und Wörter. Die
ich zusammensetze. Zu Schlagwörtern. Des Kommenden. Es ist, als würde ich auf
die Titelseite einer Zeitung schauen. Manches, was ich lese, freut mich.
Anderes versetzt mich in Unruhe. Ich weiß, wer das Rennen macht. Das Spiel
verliert. Vielleicht auch zur Unzeit. Wenn ich wieder aus der Zeit hervortrete
(durch die Null oder zwischen den beiden Zweien), bin ich zeitlos. Geworden. Und
ich warte. Wie jeden Tag. Auf den Moment: 22.07 Uhr. Vor einer Uhr. Die ich jetzt
noch gar nicht kenne.
Freitag, 23. Juni 2017
Future Island
Zunächst fällt es mir schwer, die Insel zu
finden. Sie ist aus einem Material, das sich dem Sehen entzieht. Aber das erfahre
ich erst später. Meine Navigationsgeräte arbeiten einwandfrei. Und so steige
ich einfach aus, als sie mir das Ziel anzeigen. Ich betrete die Insel. Und schon
beim ersten Bodenkontakt gibt sie sich mir zu erkennen. Es ist allgemein
bekannt, dass es die Insel gibt. Aber es lassen sich keine Skizzen oder Fotos von
ihr finden. So ist die Insel der erste Ort, den ich unvorbereitet besuche. Ich habe
mir kein Bild gemacht. Obwohl ich weiß, dass schon Menschen vor mir die Insel
besucht haben, gibt es keinerlei Erzählungen oder Berichte über sie. Sie taucht
nicht auf. Nirgends. Ich mache meine ersten Schritte auf der Insel, ohne eine
Vorstellung von ihren Ausmaßen zu haben. Ich weiß nicht, welche Pflanzen es
hier gibt. Welche Tiere sie beheimatet. Ob Städte existieren. Wie viele Menschen
hier leben. Ob überhaupt. Welche Sprache man spricht. Welche Zahlungsmittel
akzeptiert werden. Noch einmal mache ich mir bewusst, dass ich nichts über sie
weiß. Ich gehe. Und folge einer Straße, die einspurig ist. Links und rechts der
Straße sind Wiesen. Soweit das Auge reicht. Ich blicke auf ein Grün, das ganz
augenscheinlich erst kürzlich gemäht wurde. Es reicht bis zum Horizont. Und ich
gehe weiter. Ich folge dieser einen Straße. Und dann taucht rechts von mir eine
Plakatwand auf. Ich bleibe davor stehen. Und betrachte das Bild. Das ich bin. Das
Bild zeigt genau diese Situation. Ich befinde mich auf einer Straße. In einer
Graslandschaft. Ich stehe vor einer Plakatwand. Auf der ich zu sehen bin. Und
ich trage darauf auch genau die Kleidung, die ich jetzt trage. Ich gehe. Weiter.
Nach einer Stunde taucht wieder eine Plakatwand vor mir auf. Ich bleibe stehen.
Und es ist ähnlich. Und ich sage ähnlich, weil auf dem Bild, das ich jetzt
sehe, meine Haare länger sind. Und ich älter bin. Nicht viel. Vielleicht fünf
Jahre. Und nach einer weiteren Stunde stehe ich erneut vor einer Plakatwand.
Auch das bin ich. Die Haare sind jetzt kurz. Sie haben eine andere Farbe. Ich
trage keine Brille. Und ich bin siebzig. Mindestens siebzig. Dann sehe ich,
dass die Person auf der Plakatwand, die ja ich bin, ihre Lippen bewegt. Es ist
jetzt ganz still um mich. Und ich lausche. Der Stimme. Die ja meine eigene ist.
Und zu mir spricht: Was kommen wird, bin ich.
Montag, 19. Juni 2017
Das Meer über mir
Ich laufe. Auf Grund. Der Boden ist weich.
Und sandig. Manchmal fasst eine Alge nach meinem Fuß. Dann bleibe ich kurz
stehen. Weil sie mich sanft hält. Meine Befreiung jedoch ist ein Leichtes. Diese
kurzen Momente des Innehaltens genieße ich. Sehr. Ohne die Algen käme ich nie
zum Stillstand. Mein Laufen, mein Gehen währt immer. Ich habe alle Meere durchlaufen.
Und immer ist das Meer über mir. Denn ich laufe ja auf Grund. Ich mag die
verborgenen Orte. Hier unten. Es sind nur noch ein paar Fische. In diesen
Tiefen. Die mich begleiten. Was ich auch mag, sind Wracks. Die ich nahezu
täglich finde. Ich betrete die Schiffe. Und sehe mich um. Dabei belasse ich alles
so, wie ich es vorgefunden habe. Nur das Sehen ist mir wichtig. Ich wüsste
sowieso nicht, wohin mit den Dingen. Ich durchwandere die Schiffe. Und sehe mir
die Frachträume an. Die Kabinen. Kajüten. Maschinenräume. Manchmal gibt es
Speisesäle. Dort finde ich Teller. Gläser. Besteck. Manchmal sitzen auch
Menschen an den Tischen. Sie unterhalten sich. Und ich lausche ihrem Gespräch.
Kurz vor dem Untergang. Heute zieht es mich Richtung Island. Ich möchte die
Kontinentalspalte durchschreiten. Das Wasser ist hier ganz klar. Und meine
Augen reichen weit. Und erfassen alles. Morgen werde ich mich Richtung Pazifik
aufmachen. Ich habe Sehnsucht nach einem bestimmten Fisch. Nach seiner Farbe.
Und immer wird das Meer über mir sein. Und ich glücklich. Am Boden.
Mittwoch, 14. Juni 2017
Die Mitteilung
Als ich den Satz las, lehnte ich mich
zurück. Und ließ mich noch tiefer in meinen Sessel fallen. Ich saß in der
Eingangshalle eines Hotels. In einer Großstadt. Auf einem anderen Kontinent.
Eben noch hatte ich in einer Tageszeitung gelesen. Um mir ein Bild von den
hiesigen Verhältnissen zu machen. Dann stand ein Page vor mir. In einer roten
Uniform. Und überreichte mir ein Kuvert. Das auf einem silbernen Tablett lag.
Ich öffnete den Umschlag. Darin fand ich eine weiße Karte, bei der mir gleich
die Schwere des Papiers auffiel. Der Satz, den ich nun mehrmals las, war mit
einer Feder geschrieben. Die Schrift hatte einen eigentümlichen Schwung und
wirkte routiniert. Sodass ich hinter der Mitteilung jemanden vermutete, der
häufig und viel schrieb. Mit der Hand. Mit einer Feder in der Hand. Ich sah mich
um. Und musterte die anderen Gäste in der Halle. Ich versuchte, einen
Zusammenhang herzustellen zwischen der Nachricht und einem der Anwesenden. Aber
da war niemand. Niemand, der wiederum auch mich in Augenschein nahm. Um meine
Reaktion zu beobachten. Alle schienen beschäftigt. Oder vertieft. In eigene
Dinge. Doch wer war derjenige, der mir die Nachricht brachte? Ich ging zur
Rezeption. Und erkundigte mich nach dem Pagen. Der ja erst vor wenigen Minuten
an mich herangetreten war. Man könne mir nicht weiterhelfen. Nachrichten würden
in diesem Hause nur elektronisch übermittelt. Direkt auf den Bildschirm. Im
Zimmer. Ich überlegte einen Moment. Und sah auf die Karte. Um den Satz ein
weiteres Mal zu lesen. Dann sprach ich ihn laut. In den Raum. Und nichts blieb.
Was es war.
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