Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Samstag, 23. Juli 2016

Im Lande Ur



Da waren Zeichen. In meiner Hand. Es war die linke. Die ich zuerst betrachtete. Und wo sie mir auffielen. Die Zeichen. Es waren kleine Keile. Hineingedrückt. In meine Haut. Die Hand war damit beschrieben. Die ganze Innenfläche. Von den Fingerkuppen. Bis zur Handwurzel.  Die Zeichen waren symmetrisch angeordnet. Mir gefiel das. Das Schriftbild war schön. Und sehr eben. Die Zeichen selbst waren mir unbekannt. Ich konnte sie nicht lesen. Und ich wusste sie auch nicht einzuordnen. Weder geografisch. Noch geschichtlich. Ich vermochte also nicht viel zu sagen. Über die Herkunft der Zeichen. In meiner Hand. Beim Zubettgehen war ich ganz behutsam. Weil ich die Zeichen nicht löschen wollte. Und so nahm ich ein Stück Stoff und tupfte vorsichtig an einer Stelle. Ganz außen. An meiner Hand. Dort, wo ein Zeichen auslief. Das ich mir vorher eingeprägt hatte. Aber es blieb. Und so wusch ich. Die Hände. Währenddessen beschloss ich, am nächsten Tag ein Museum aufzusuchen. Dort sammelte man Zeichen. Zeichen in Büchern, auf Rollen und Pergament, auf Tafeln und der Haut von Tieren. Dort ging ich hin. Und studierte die Zeichen. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Epochen. Und den verschiedensten Teilen der Welt. Und tatsächlich: Auf einer tonigen Tafel sah ich sie. Die Zeichen. Kleine Keile. In Ton gedrückt. Wie bei mir. Und ich las das Schild. Das man dort angebracht hatte. Sie hatten ihren Ursprung im Zweistromland. Ich betrachtete die Zeichen auf der Tontafel. Verglich sie dann mit meinen. Und dann fiel mir auf, dass der letzte Satz auf der Tontafel der erste Satz auf meiner Hand war. Ich ging zum Empfang in der Eingangshalle. Und fragte nach einer Person, die der Zeichen mächtig war. Sie lesen konnte. Die Zeichen. Des Zweistromlands. Ich wurde in einen Saal geführt. Dort stand jemand. An einem Stehpult. Ich zeigte ihm die Zeichen. In meiner Hand. Er schaute mich an. Seine Augen waren ganz weiß. Und in diesem Weiß erschienen die Zeichen. Zeichen für Zeichen. Und ich folgte den Zeichen. In seinen Augen. Mit meinen Augen. Bis ich verstand.

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