Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Montag, 25. Juli 2016

Im Kokon



Die Fliese sah anders aus. Und als ich sie berührte, gab sie nach. Sie zerbrach. Wie eine Eierschale. Dahinter war eine Halle. In der Menschen standen. Ich näherte mich ihnen. Die Halle glich einer Kathedrale. Ein Prachtbau, dachte ich. Dieser Begriff stellte sich ein. Um diesen Ort zu begreifen. Ich stand in der Mitte des Raums. Von hier waren die Wände des Bauwerks nur undeutlich zu erkennen. So weitläufig war es. Und als ich nach oben schaute, war keine Decke zu sehen. Da war nichts. Eingezogenes. Was den Raum begrenzte. Oder abschloss. Nach oben hin. Es war auch kein Himmel zu erkennen. Und die Menschen, die in der Halle standen, schauten nach oben. Als würden sie auf etwas warten. Ich trat näher heran. Sie unterschieden sich von mir. Und schienen einer anderen Zeit zu entstammen. Ihre Kleidung war mir fremd. Die Stoffe, aus denen ihre Kleider gemacht waren, sahen aus wie Staub. Bunter Staub. Der glänzte. Wie ich es sonst von den Flügeln der Schmetterlinge kannte. Ich lag nicht falsch. Das zeigte sich jetzt. Das, worauf die Menschen warteten, traf ein. Trat ein. Von oben. Es waren Falter. Ein ganzer Schwarm. Sie waren purpurfarben. Mit weißen Augen. Auf ihren Flügeln. Sie waren groß. Und maßen eine Elle. Wind kam auf. Er war so stark, dass ich mich an einer Säule festhielt. Und schon nach kurzer Zeit war der Boden bedeckt. Mit den Faltern. Die ganz ruhig wurden. Und still. Reglos saßen sie da. Und mir war, als schliefen sie. Und die Menschen legten sich dazu. Ganz behutsam. Um sie nicht zu zerdrücken. Und ich sah ihnen dabei zu. Allem Anschein nach war ich noch nicht entdeckt worden. Weder von den Menschen noch den Faltern. Jetzt schliefen alle. Und dann hörte ich ein Geräusch. Etwas Schabendes. Außen. Es schabte an den Außenwänden. Und an den riesigen Fenstern. Da regte sich etwas. Da rankte etwas. Etwas wucherte. Dort draußen. Und es wurde immer dunkler. In der Kathedrale. Das mussten Pflanzen sein. Ranken. Die alles umfingen. Aber was ich durch die Fenster sah, war nichts Grünes. Es war weiß. Es sah aus wie ein Wollfaden. Der sich immer mehr und immer dichter um die Kathedrale legte. Bis alles abgeschlossen war. Zu. Wir atmeten. Aber es drang kein Licht mehr zu uns durch. Und dann verstand ich: Wir befanden uns in einem Kokon. In einem riesigen Kokon. Wir waren eingesponnen. Vielleicht schlüpften wir bald. Ich wusste es nicht. Alles schlief. Noch immer. Dann musste auch ich eingeschlafen sein. Und als ich wieder aufwachte, erwachten alle. Alles. Auch die Anderen. Aber es gab ja gar nicht mehr dieses Andere. Denn alles war jetzt eins. Wir waren zu einem einzigen Falter geworden. Der sich nun prachtvoll erhob.

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