Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Dienstag, 4. April 2017

Vier Figuren



In dem Raum, den ich gleich betreten werde, ist etwas versteckt. Das sagte man mir. Man hat es mir angekündigt. Und es hat sich auch schon herumgesprochen. Bei denjenigen, die Rätsel mögen. Bilderrätsel. Wir alle fühlen uns angezogen. Von diesem Raum. Und ich bin weit und lang gereist. Um ihn aufzusuchen. Ich habe mich im Nebengebäude einzufinden. Dort erwartet man mich. Die Person, die ich dort bei meiner Ankunft vorfinde, ist festlich gekleidet. Ganz in Schwarz. Sie trägt einen Frack. Ein schimmerndes Hemd. Dazu dünne Handschuhe. Aus schwarzer Gaze. Sie begleitet mich zu dem Raum. Und öffnet das Portal. Dann verbeugt sie sich leicht. Und wünscht mir Einen guten Aufenthalt. Zunächst passiere ich eine Vorhalle. Und komme dann in den eigentlichen Raum. Ich habe mein Ziel erreicht. Die Deckenhöhe ist für meine Augen unermesslich. (Ich sehe keinen Abschluss. Dort oben.) Ich glaube jedoch nicht, unter freiem Himmel zu stehen. Die Akustik und auch der Zustand des Raums (der keine Spuren von Verwitterung aufweist) bestärken mich darin. Der Raum selbst ist komplett in Weiß gehalten. Ich trete näher heran: Es ist weißer Marmor, der in sich keinerlei Struktur oder Maserung aufweist. Es ist also sehr weiß hier. Ich bin von reinstem Weiß umgeben. Der Raum ist quadratisch. Und ich gehe ein wenig umher. Auf und ab. Um ein Gefühl für den Raum zu bekommen. Und meine Augen beginnen schon jetzt, die Wände und den Boden abzusuchen. Nach den vier Figuren. Die sich hier versteckt halten. Der Aufenthalt in diesem Raum ist zeitlich begrenzt. Auf eine Stunde. Die Nachfrage ist groß. Nachdem ich die Wände und den Boden mehrmals systematisch untersucht habe, konzentriere ich mich mehr und mehr auf die Ecken. Von denen ich vermute, dass sich dort die Figuren verbergen. Und so gehe ich immer wieder in die einzelnen Ecken. Und mich interessiert besonders die Stelle, wo die Wände aneinanderstoßen. Diese Kante. Oder. Diese Kanten. In diesem Kantigen könnten sie sein. Die Figuren. Aber ich sehe nichts. Was ich jetzt sehe, sind Kameras. Die meinen Bewegungen folgen. Das irritiert mich. Und ich fühle mich gestört in meinem Mit-Mir-Selbst-Sein. Und dem Suchen- und Findenwollen der Figuren. Nach einigen Minuten gelingt es mir aber, die Kameras auszublenden. Ich werde die Perspektive wechseln, überlege ich. Und die Ecken mit Abstand betrachten. Dann gehe ich wieder in die obere linke Ecke. Diesmal ganz nah. Und suche alles ab. Mit meinen Augen. Die bereits zu schmerzen beginnen. Ich strenge sie an. Ich strenge sie an. Und erhoffe mir einen Befund. Einen Fund. Einen Figurenfund. In wenigstens einer der Ecken. Ich bin besessen von diesem Fund. Ich möchte mit meinen Fingern, meinen Nägeln den Marmor aufkratzen. Aufreißen. Um dort im Innern weiterzusuchen. Nach den Figuren. Aber ich erinnere mich: Hier in diesem Raum herrscht striktes Berührungsverbot. Und so laufe ich immer wieder von Ecke zu Ecke. Ich bin getrieben. Haltlos. Kopflos. Meine Gedanken verlieren an Klarheit. An Struktur. Und sie beginnen zu rasen. Es ist Raserei, die sich jetzt  zeigt. An und in mir. Dann öffnet sich das Portal. Ganz weit hinten. Und man ruft mich. Ich laufe durch die Vorhalle. Dem Ausgang entgegen. Plötzlich fühle ich mich befreit. Und ich möchte diesen Ort verlassen. Da ist wieder die Person. Im Frack. Sie sieht mich an. Und beim Schließen des Portals wendet sie sich mir noch einmal zu. Und lässt mich etwas wissen: Die Figur sind Sie.

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