Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 26. April 2017

Ferne

Irgendwann nahm ich ein Fernglas zur Hand. Im Wohnzimmer waren die Bücherregale mittlerweile so weit entfernt, dass ich sie nicht mehr deutlich erkennen konnte. Die Entfernung betrug vom Kamin aus bereits mehrere hundert Meter. Und vergrößerte sich. Täglich. Im Bad erging es mir ähnlich. Mein Weg von der Tür bis zur Wanne glich einem Spaziergang. Ich mochte dieses Gefühl von Weite. Die Fläche, die ich jetzt bewohnte, hatte jedoch eine Weitläufigkeit, die ich kaum mehr ermessen konnte. Aber ich hatte mein Fernglas. Manchmal nahm ich auch eine Lupe zur Hilfe. Oder ein Mikroskop. Um alles nah zu haben. Mein Tagesablauf änderte sich. Denn ich hatte jetzt weite Strecken abzulaufen. In meiner Wohnung. Der morgendliche Weg führte mich vom Schlafzimmer in die Küche. Dann ins Bad. Von dort ins Wohnzimmer. Und zurück ins Schlafzimmer. Noch einmal ins Bad. Und schließlich den Flur hinunter. Bis zur Eingangstür. Dieser Gang durch meine Wohnung nahm eine gute Stunde in Anspruch. Reine Wegzeit. Heute ist Sonntag. Und ich stehe vor meinem Haus. Ich möchte wissen, ob ich ihm das, was im Innern geschieht (die Ausdehnung der Räume), von außen ansehen kann. Ob das Haus verzerrt aussieht. Oder sich Ausstülpungen zeigen. Aber es scheint wie immer. Ich überlege, jemanden im Haus anzusprechen. Mich beschäftigt die Frage, ob bei anderen Ähnliches geschieht. Ich bin mir jedoch unschlüssig, wie ich das Gespräch darauf lenken soll. Auf die Tatsache, dass bei mir alles in weiter Ferne liegt. Sich die Wege verlängern. Jeden Tag mehr. Deshalb lausche ich zunächst. Auf die Schritte in der Wohnung über mir. Ob ich von ihnen etwas ableiten kann. Vielleicht ist da eine andere Intensität. Oder Dauer. Die mir einen Hinweis gibt. Ich höre aber nichts. In dieser Richtung. Ich sehe mir die Nachbarn an. Wenn sie das Haus verlassen. Ob ich eine Veränderung wahrnehme. An ihrem Gang. Ob sie müder wirken. Durch die Anstrengungen. Der Entfernung. Aber es bleibt dabei. Es bleibt bei mir. Das Ferne. Alles rückt noch weiter ab. Und ich gehe weiter. Tag für Tag. Aber ein Tag wird kommen. So wird es kommen. Ein Tag, an dem die Ferne naht.   

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