Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Montag, 10. April 2017

Nächtens



Ich lebe nachts. Ich arbeite nachts. Esse. Gehe spazieren. Und liebe. Nachts. Was ich in den hellen, lichten Stunden tue (die Tag genannt werden), weiß ich nicht. Weil ich keine Vorstellung davon habe, was ein Tag ist. Das Licht, das ich sehe, ist immer künstlich. Das natürliche hingegen, von dem man mir erzählt, kenne ich nicht. Ich mache vieles allein. Für einen Spaziergang in der Nacht finde ich selten Gefährten. Mit der Liebe ist es anders. Aber auch sie gestaltet sich oft schwierig. Weil vielen eine Liebe am Tag doch lieber ist. Ich bin gesund. Und habe eine Haut, die nach Sonne riecht. Sagt man mir. Was ich nicht glauben kann. Wenn ich einmal krank bin, gehe ich zum Nachtdienst. Zur Nachtapotheke. Habe ich Appetit, gibt es Supermärkte, in denen ich zur Nachtstunde einkaufen kann. Das war früher anders. Da ernährte ich mich von dem, was die Tankstellen mir anboten. An ihren Nachtschaltern. Mein Leben verläuft sehr ruhig. Auch hier in der Stadt. Ich treffe selten auf Menschen. Und der Verkehr kommt fast zum Erliegen. Wenn ich nachts unterwegs bin. Ich habe die Straßen und Plätze oft für mich allein. Und auch von meiner Arbeit werde ich nicht abgelenkt. Denn es ist ganz still. Im Haus. Und ich kann mich gut konzentrieren. Manchmal beschäftigt mich die Frage, was ich eigentlich tagsüber tue. Was ich ja nicht weiß. Einmal baute ich eine Kamera auf. Um dieser Frage nachzugehen. Aber ich konnte mich nicht erkennen. Es war vollkommen dunkel. In diesen Aufzeichnungen des Films. Obwohl alles gut ausgeleuchtet war. Mit zwei Scheinwerfern. Die ich in meiner Wohnung positionierte. Nach einem weiteren Versuch gab ich auf. Mit dieser Klärung. Denn auch diesmal blieb alles im Dunkeln. Und so beschloss ich, dass es den Tag gar nicht gibt.

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