Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 22. Januar 2017

Von Zeigern großer Uhren



Ich hatte mich lange auf die Reise vorbereitet. Sie war beschwerlich. Weil ich den Ort letztendlich nur zu Fuß erreichen konnte. Dem ging eine dreitägige Zugfahrt voraus. Am Endbahnhof schulterte ich mein Gepäck. Hier gab es nur eine Straße. Die eher einem Weg oder einer Piste glich. Und ich lief sie in westliche Richtung. Am Abend kam ich in der Stadt an. Sie war vollständig von einer Mauer umgeben. Und ihr Ursprung lag Jahrhunderte zurück. Durch eines der Tore betrat ich die Stadt. Und ging zunächst zu meiner Herberge. Ich fand alles so vor, wie es mir angekündigt wurde. Dann setzte ich mich mit einem Glas Tee in den schattigen Innenhof. Und schloss die Augen. Ich lauschte dem Springbrunnen. Hörte Vögel. Deren Stimmen mir gänzlich unbekannt vorkamen. Ich merkte, wie ich mich entspannte. Und allmählich ankam. Ich ging in ein Restaurant. Aß zu Abend. Löschte früh das Licht. Und schlief einen tiefen, traumlosen Schlaf. Die Stadt war dafür bekannt, seit jeher die Zeiger großer Uhren zu sammeln. Und es waren eben diese Zeiger, wegen derer ich hierher kam. Sie interessierten mich. Man hatte die Zeiger über die gesamte Stadt verteilt. Und da es hier so gut wie nie regnete oder stürmte, befanden sich alle Zeiger draußen. Unter freiem Himmel. Man hatte sie aufgestellt wie Obelisken. An der Rezeption erhielt ich einen Plan, auf dem die Standorte aller großen Zeiger eingezeichnet waren. So zog ich los. Bis Mittag hatte ich mir fünf verschiedene Zeiger angesehen, die sich alle im Süden der Stadt befanden. Ich studierte ihre Formen und Farben. Aber das waren eher Äußerlichkeiten. Mein Hauptanliegen war ein anderes: Ich hatte ein Stethoskop mitgebracht. Und wollte die Zeiger abhören. Auf ihren Takt. Ihre Melodie. Ihre Geschichte. Jeder Zeiger hatte sein eigenes Innenleben. Manchmal hörte ich es in ihnen strömen. Oder pochen. Und dann wieder schien eine Feder herauszuspringen. Oder es verhakte sich etwas. Für einen kurzen Moment. Dann war da ein Stottern. Eine leichte Vibration. Die wieder in etwas Regelmäßiges überging. Am dritten Tag hatte ich mich schon bis in den Norden der Stadt vorgearbeitet. Und bereits zahllose Zeiger aufgesucht. Sie untersucht. Und dokumentiert. Der Zeiger, vor dem ich jetzt stand, befand sich in der Mitte eines Platzes. Hier gab es Bänke. Auf denen Menschen saßen. Alle hatten den Zeiger fest im Blick. Diesem Zeiger sagte man nach, eine Eigenzeit zu haben. Die vollkommen von dem abwich, was man sich sonst unter der Zeit vorstellte. Es war ein Zeiger. Und er zeigte, wie die Zeit alles zeitigt. Zu einem neuen Anfang hin. Und das traf auf jeden zu, der hier saß. Und ihn betrachtete.  

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