Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Montag, 23. Januar 2017

Aus Mündern wachsen



In der Stadt, in der ich wohne, gibt es keine Geschäfte. Die nächsten Einkaufsmöglichkeiten sind Meilen entfernt. Und da niemand hier über ein Fahrzeug verfügt und die Stadt auch nicht angefahren wird, müssen wir das, was wir brauchen, anders beschaffen. Als ich hier hinzog (und das ist schon viele Jahre her), wurde die Stadt noch von Drohnen versorgt. Irgendwann blieben sie aus. Deshalb sind wir dazu übergegangen, uns selbst zu versorgen. Was wir brauchen, wächst aus uns selbst. Genauer gesagt: Aus unseren Mündern. Lebensmittel. Kleidungsstücke. Bauteile elektrischer Geräte. Wir haben uns spezialisiert. Sind arbeitsteilig. Und leben im Tauschhandel. Anfangs mit Einschränkungen: Wenn etwas aus dem Mund wächst, fällt das Sprechen schwer. Und das Essen besonders. So war diese Methode zunächst sehr beschwerlich. Aber wir perfektionierten sie. Alles wächst jetzt innerhalb weniger Minuten. Wir können sogar einige Dinge auf Lager legen. Und haben einen Vorrat. Das ist neu. Und noch ganz ungewohnt. Von Zeit zu Zeit erhalten wir Besuch. Von außen. Aus anderen Ländern. Und Städten. Die sich ähnlich versorgen möchten. Man fragt uns nach dem Saatgut. Der Ursprungszelle. Oder einem Keim. Aus dem sich dann alles entwickelt. In unseren Mündern. Und wir sind uns nicht sicher, wie wir die Frage beantworten wollen. Denn das, was hier wächst aus uns, ist ganz gläsern. Und bedarf keines Keims. Genau wie wir.

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