Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 25. Januar 2017

Flatternde Gärten



Ich war jetzt am Meer. Die Sonne stand im Zenit. Und ich wanderte über den Deich. Es war Ebbe. Was sich jetzt im zurückgehenden Wasser zeigte, waren Gärten. Sie waren terrassenförmig angeordnet. Und von üppigem Wuchs. Ich sah Blumen. In prachtvollen Farben. Da waren Gemüsebeete. Und man hatte sogar Rebstöcke gepflanzt. Die Gärten mussten sich bei Flut auf dem Meeresboden befinden. Es waren Wassergärten. Und ich beschloss, meinen Spaziergang fortzusetzen. Und in einigen Stunden, wenn die Flut kam, wieder auf den Deich zurückzukehren. Als ich gegen Abend an die Stelle zurückkam, war das Wasser schon merklich gestiegen. Es würde aber noch einige Zeit dauern, bis alles überflutet war. Die Gärten jedoch waren schon jetzt verschwunden. Ich überlegte mir, bei dem übernächsten Gezeitenwechsel (beim Übergang von Ebbe zu Flut) wieder hier zu sein, um alles mitzuverfolgen. Und als ich wiederkam, hatte ich Glück: Die Gärten waren noch da. Und das Wasser begann gerade, langsam zwischen die Blumen und Pflanzen zu strömen. Plötzlich veränderte sich das Bild. Und die Gärten erhoben sich in die Lüfte. Und flogen davon. Wie Vögel. Als ich sie aus den Augen verloren hatte, ging ich zurück. Und kam an einer Fischerhütte vorbei. Dort saß ein Mann. Und flickte sein Netz. Ich blieb stehen. Und sprach ihn an auf das, was ich gerade gesehen hatte. Er zeigte auf die Netze. „Wir fangen seit Jahren keine Fische mehr“, sagte er. „Niemand hier kann das. Wir versuchen stattdessen, die Gärten einzufangen. Mit unseren Netzen. Aber sie flattern uns davon. Bei jeder Flut. Wir wissen, dass sie zurückkommen. Bei Ebbe. Dennoch möchten wir nicht sein. Ohne Netze.“    

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