Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Montag, 13. Februar 2017

Zeitlupe



Das Objekt kam näher. Es bestand aus Glas. Und betrachtete alles. Es rückte voran. Dann wieder ein Stück zurück. Zwischendurch machte es Bögen. Immer zuerst nach links.  Dann nach rechts. Manchmal glich diese Form einem Vogel. Seinen Schwingen. Von dem Platz aus, wo ich saß, konnte ich die Bewegungen des Objekts gut beobachten. Und auch das Randgeschehen. Das dann immer mehr zum Hauptgeschehen wurde. Denn ich nahm Veränderungen wahr. Dort, wo das Objekt sich aufhielt, verlief eine Straße. Sie war vierspurig. Daneben gab es noch Radwege. In beide Richtungen. Und ich sah auch Fußgänger. Sie waren an den Rändern unterwegs. Die Ränder waren breit. Es waren komfortable Wege. Die zu dieser Jahreszeit sogar überdacht waren. Um die Sonne abzuschirmen. Nach einer Weile also stellte ich fest, dass es einen Zusammenhang gab zwischen der Aktivität des Objekts und dem Strom auf den Bahnen. Den Fahrbahnen. Und Gehwegen. Mal verlief alles sehr regelmäßig. Dann stockte es. Die Bewegungen verlangsamten sich. Dann gab es einen kleinen Ruck. Im Gesamtbild. Und alles bewegte sich rückwärts. Um dann wieder vorwärts zu laufen. Schneller. Auch ich nahm an mir Veränderungen wahr. Mal saß ich aufrecht auf meinem Stuhl (von dem aus ich ja alles beobachtete), dann schien ich einzusinken. Ich wurde kleiner. Und sah jetzt alles aus der Perspektive eines Kindes. Und auch mit meinen Händen ging etwas vor. Ich betrachtete sie: Mal waren es weiche und glatte Hände. Dann die eines alten Menschen. Und als ich einen Spiegel aus meiner Tasche nahm, konnte ich genau diese Veränderungen auch in meinem Gesicht wahrnehmen. Ich sah eine junge Frau. Und dann eine Greisin. Die aus alten, dennoch wachen Augen in den Spiegel schaute. Ich überlegte, was passieren würde, wenn sich mehrere dieser Glasobjekte formierten. Sich aufschichteten. Zu einem Brennglas. Vielleicht würde es die Zeit verbrennen. Und der Rauch der Zeit würde aufsteigen. Über mir. Und dann würde es zu regnen beginnen. Und in den Tropfen wären die Stunden. Minuten. Und Sekunden. Sie würden auf die Erde fallen. Und da wären Gewächse: Die Blumen der Zeit. Die Bäume der Zeit. Die Früchte der Zeit. Und ich würde essen davon. Bis ich die Zeit in mir hätte. Das würde der Anfang sein.

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