Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Montag, 31. Oktober 2016

Alles ist Spiegel



Ich dachte, das sei ein Interview. Aber hier ist niemand, der mir Fragen stellt. Stattdessen spreche ich einfach. Ohne Gerüst. Und ohne Anhaltspunkte. Da ist nichts, was meiner Erinnerung fragend eine bestimmte Richtung gibt. Aber man hat mich gebeten, über die Spiegel zu sprechen. Die Spiegel in meinem Haus. Die alles auskleiden. Jeden Raum. Die Decke. Die Wände. Den Boden. Meine Möbel sind Spiegel. Meine Kleider. Meine Schuhe. Meine Haustiere (ein Hund und zwei Katzen). Die Bücher. Und dann der Vogel. Der Vogel, durch den letztendlich alles aufbrach. Dieser spiegelnde Sittich, der sich erhob vom Dach seines Spiegelkäfigs. Und gegen die Decke flog. Die verspiegelte Decke des Raums. Da löste sich etwas. Zunächst war es Staub. Spiegelstaub. Ganz glitzernd. Der im Licht langsam zu Boden fiel. Und dann war es eine ganze Platte, eine Fliese, eine Spiegelfliese, die von dort oben herabfiel. Es war sehr laut. Die Haustiere (der Hund und die beiden Katzen) kamen sogleich angelaufen. Und sie fraßen die Spiegelstücke. Ich konnte sie nicht davon abhalten. Sie waren gierig. Bissen hinein. Und schluckten alles hinunter. Und als ich mich an die Stelle stellte, wo es herausgebrochen war, blickte ich in etwas, das ich nicht kannte (heute weiß ich, dass es der offene Himmel war). Ich kannte es nicht. Denn ich bewegte mich ja in Spiegeln. In unendlichen Reflexionen dessen, was mich umgab. Hier im Haus. Und so stand ich auch mir selbst hundertfach gegenüber. Das war viel. Manchmal zu viel. Dann setzte ich mich. Und schloss die Augen. Und da auch meine Augen aus Spiegeln gemacht sind, warf ich etwas hinein. In mich. Einen Blick. Und er kam gleich zurück. Zu mir. Und ich warf ihn wieder hinein. In mich. Und so ging es. So ging es weiter. An den Stellen in mir, wo meine eigenen Sichtachsen verliefen und meine Blicke auftrafen (immer wieder), waren die Spiegel schon ein wenig blind geworden. Das sah ich nicht. Das sah ich erst später. Als ich die Spiegel aus mir herausgeholte. Mit meinen Händen. Ich hatte mir die Finger zerschnitten. Daran. Aber da kam kein Blut. Stattdessen eine silbrige, glänzende Masse. Dickflüssig. Und wo sie hintropfte, bildete sich sogleich ein neuer Spiegel. Und als ich auf den Spiegel sah, fiel mein Blick in den Spiegel hinein. Und er verlor sich dort. Ich musste ihn wieder hinausziehen. Und an diesem Blick hing sehr viel.  

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