Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 22. Juni 2016

Versteinerter Brief



Was ich hier auf dem Tisch vor mir habe, irritiert mich. Es ist etwas, das ich so noch nicht gesehen habe. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es anfassen kann. Wovon ich spreche, ist ein versteinerter Brief. Er sieht aus wie eine Steinplatte. Gräulich. Und leicht verwittert. Und schwer. Die Schrift hebt sich deutlich vom Papier ab. Sie steht hervor. So wirkt sie fast räumlich. Und beim Anblick des steinernen Papiers erkenne ich auch eine Struktur. Dahinter. Oder darin. Eine Maserung. Vielleicht ist das ein Baum, den ich da sehe. Die Maserung eines Baums, die sich auf dem Papier abzeichnet. Und ich sagte bereits, dass ich Berührungsängste habe. Im wahrsten Sinne. Des Wortes. Ich möchte den Brief noch eine Weile anschauen. Mich mit seiner ungewöhnlichen Komposition vertraut machen. Und allmählich gelingt es mir dann, ganz leicht über die Buchstaben zu streichen. Seltsam, dass sie sich abheben. Ein bisschen wie Lettern einer ganz alten Druckmaschine. Und jetzt, wo ich die Buchstaben berühre, höre ich Töne. Ich streiche mehrmals über die Lettern. Und nun ergeben sich Melodien, die mich zwar an nichts erinnern, aber schön klingen. Plötzlich geraten die Buchstaben in Bewegung. Ich weiche zurück. Und die Schrift bildet sich um. Alles gruppiert sich neu. Und auch anders. Ich setze mich. Um zu lesen, was dort geschrieben steht. Und ich sehe, dass der Brief an mich adressiert ist. Und eine Nachricht enthält. Ich lese. Ich lese, dass alles Gelesene falsch ist.

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