Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 19. Juni 2016

Vergessener See



Ich gehe durch Straßen. Einer Stadt, die ich das erste Mal besuche. Und diese Stadt ist für diese Gegend oder auch für dieses Land ungewöhnlich angelegt. Sie hat die Form eines Schachbretts. Die Häuser hier sind flach gebaut. Fast wie Bungalows. Und sehen alle vollkommen gleich aus. Sie sind weiß getüncht. Mit schwarzen Fensterrahmen. Und vor jeder Tür steht ein Auto identischer Bauart. Das blau ist. Während ich weitergehe, realisiere ich mehr und mehr, dass mir in den Straßen, durch die ich bisher lief, noch kein einziger Mensch begegnet ist. Ich gehe. Weiter. Und es setzt sich fort mit den Häusern. Und mit den Autos. Und mir fällt jetzt auf, dass es an den Häusern keine Nummern gibt. Jedenfalls keine für mich erkennbaren. Möglicherweise gibt es hier Zeichen (vielleicht auch versteckt), die für die Bewohner hier so etwas wie Hausnummern sind. Ich gehe weiter. Einfach geradeaus. Sonst befürchte ich, die Orientierung zu verlieren. Trotz meines Stadtplans. Denn die Straßen darauf sind zwar durchnummeriert (mit Zahlen und Buchstaben), aber ich sehe keine Straßenschilder. Keine Straßennamen. Nirgends. Da scheint mir das Geradeausgehen das Verlässlichste zu sein. Dort, wo ich das Ende der Straße vermute, ist ein anderes Licht. Es sieht bläulicher aus. Als hier. Und es ist gleichzeitig heller. Und je näher ich komme, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass ich mich auf Wasser zubewege. Auf meinem Stadtplan ist kein Gewässer verzeichnet. Und ich sehe dann auch, dass sich dort am Wasser Menschen aufhalten. Und bin erleichtert. Und gehe näher darauf zu. Dann stehe ich auf einer Promenade. Sie ist ein bisschen höher als der Strand darunter. Und das Wasser. Vielleicht ist es sogar ein Meer. Ich weiß es nicht. Ich kann keine Uferlinien erkennen. Alles ist offen. Jetzt stehe ich ganz am Rand der Promenade. Am Geländer. Von dort sehe ich hinunter: Da sind viele Menschen. Die im Sand liegen. Oder Federball spielen. Schwimmen. Mit kleinen Booten fahren. Und was ich jetzt sehe, beunruhigt mich. Beunruhigt mich sehr: Die Menschen hier am Strand sind alle identisch. Und dann wird es plötzlich ganz still.   

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