Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 9. Juni 2016

In einem 2. Klasse Abteil leben



Der Zug, in dem ich wohne, ist ein Zug älterer Bauart. Er erinnert mich an einen D-Zug. Mit dem ich in den 80er Jahren durch die Schnee-Eifel fuhr. Darin auch ein Raucherabteil, in das ich ging, um luxemburgische Ducal zu rauchen. Mein Abteil ist mit zwei gegenüberliegenden Bänken ausgestattet. 2 x 4 Sitze. Es gibt hohe Rückenlehnen, die fast bis zu den Gepäckablagen reichen. Dazwischen Spiegelfliesen. Im Querformat. Über jedem Sitz eine. Die Bezüge sind dunkelrot. Dunkelrotes Kunstleder. Die Wandverkleidung aus Echtholz. Ich habe dimmbare Deckenleuchten. In der Gepäckablage meine Bücher. Und einige Wäschestücke. Es gibt zwei Decken. Auf einer liege ich. Mit der anderen decke ich mich zu. Ferner ein Kissen. In klassischem Weiß. Die eine Seite der Sitze nutze ich als Schlafbank. Die andere Seite ist mein Wohnzimmer. In dem ich auch arbeite. Ich kann die Tische unter dem Fenster ausklappen. Mein Tablett abstellen. Die Tische sind gute Schreibunterlagen. Die Luft hier ist immer frisch. Denn die Fenster lassen sich öffnen. Durch einfaches Runterziehen. Und ich habe anthrazitfarbene Vorhänge. Am Außenfenster. Die ich bei Sonnenuntergang schließe. Ich kann auch die Vorhänge am Gang zuziehen. Dann hat niemand mehr Einblick. In mein Abteil, das ja meine Wohnung ist. Was ich sehr angenehm finde: Der Zug ist auf zahlreichen Strecken unterwegs. So durchfahren wir die unterschiedlichsten Gebiete und Länder. Am Anfang habe ich sehr viel Zeit damit verbracht, aus dem Fenster zu schauen. Und Landschaften zu betrachten. Oder auch die Städte, in die wir einfuhren. Mich haben die Lebensformen dort sehr interessiert. Mittlerweile schaue ich kaum noch nach draußen. Ich bin jetzt meist hier. Im Innern. Meines Abteils. So habe ich keine Orientierung. Im Außen. Im Draußen. Und weiß nicht, wo genau wir uns gerade befinden. Aber das stört mich auch nicht. Ich könnte mich ja jederzeit erkundigen. Beim Schaffner. Beim Personal. Ich könnte herausschauen, wenn der Zug in einen Bahnhof einfährt. Und die Schilder lesen. Das Sonderbare an diesem Zug ist, dass ich gar nicht weiß, wer die anderen Fahrgäste sind. Oder ob es überhaupt andere Fahrgäste gibt. Ich höre ja manchmal Schritte. Auf dem Gang. Gesehen habe ich niemand. Und auch noch keinen Schaffner. Der in mein 2. Klasse Abteil kommt. Um meine Fahrkarte zu kontrollieren. So fahre ich. Ohne zu wissen, wer fährt.

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