Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 18. Mai 2017

Nest (eine Art von)



Die Straße, durch die ich gerade gehe, ist dicht mit Lampen bestanden. Ihre Schirme öffnen sich Richtung Himmel. Sodass auch das Licht nach oben strahlt. Ich überdenke diese Konstruktion. Denn hier unten auf der Straße ist es nahezu dunkel. Es ist nur ein schwacher Lichtkegel, der auf den Gehweg fällt. Irgendetwas bewegt sich. In den Lampen. Das sehe ich. Auch durch die Schirme. Mich erinnert es an Flügelschläge. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht sind dort Nester. So beschließe ich, bei Tag wiederzukommen. Jetzt (bei Tageslicht) sehe ich klarer. Ich beobachte, wie etwas aus den Lampen fliegt. Und nach einiger Zeit zurückkehrt. Wie in ein Nest. Dieser Flug aus den Lampen verläuft synchron. Es ist ein gleichzeitiges Wegfliegen. Und eine gemeinsame Rückkehr. Zu den Lampen. Ich schaue auf meine Uhr. Die Ankunft erfolgt nach einhundertachtzig Sekunden. Und auch beim fünften Durchlauf bleibt diese Zeitspanne konstant: Es sind immer einhundertachtzig Sekunden. Das, was das Nest verlässt, ist kein Vogel. Es trägt kein Gefieder. Es sind Kugeln. Mit Flügeln. Daran. Die nackt sind. Von hier unten sehen sie aus wie Pergamentpapier. Wenn die beflügelten Kugeln zurückkehren, klebt etwas Hohes und Schmales an ihnen. Es sind Zeiger. Stundenzeiger. Und Minutenzeiger. Man hört, dass die Uhren hier nackter und nackter werden. In diesem Bezirk. Und dass da etwas brütet. In den Nestern. Und die Brut mit Zeigern gefüttert wird. Die Brut sitzt im Zeitnest. Dies ist die Allee der Zeitnester. Jetzt spüre ich ihn. Den Flügelschlag. Ich fliege fort. Und kehre zurück. Nach einhundertachtzig Sekunden.

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