Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Dienstag, 23. August 2016

Stille



Ich bin Übersetzerin. Ich arbeite zu Hause. Mein Arbeitszimmer liegt im hinteren Teil meiner Wohnung. Neben dem Schlafzimmer. Letzte Nacht wachte ich auf. Was sehr selten vorkam. Es war kurz vor zwei. Ich stand auf, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Tagsüber war es sehr warm gewesen. So hatte ich am späten Abend, als ich zu Bett ging, alle Fenster geöffnet. Jetzt stand ich am offenen Küchenfenster und genoss die kühle Luft. Dann hielt ich inne. Wie still es war. Kein Laut. Obwohl ich doch mitten in der Stadt wohnte. Ich beließ es dabei, ging zurück in mein Schlafzimmer und schlief weiter. Ich hatte den Wecker auf halb sieben gestellt. Ich duschte. Frühstückte dann. Und um halb acht saß ich am Schreibtisch. Es war Dienstag. Ich ging meine gestrigen Notizen nochmal durch. Übersetzungen ins Niederländische mochte ich besonders. Dann überflog ich den ersten Absatz. Aber irgendetwas irritierte mich. Ich schloss die Augen. Wie ruhig es war. Wie unheimlich ruhig es war. Ich stand auf und ging zu meiner Wohnungstür. Ich lehnte meine Stirn an die Innenseite Tür. Und lauschte. Ins Treppenhaus. Wartete. Eine ganze Weile. Nichts geschah. Wo blieb die Nachbarin aus dem 2. Stock? Die mehrmals am Tag mit ihrem Hund hinunterkam. Ich wartete auf das Geräusch, das die Pfoten des Hundes auf der Treppe machten. Und mein Nachbar von gegenüber? Ich konnte doch sonst die Uhr nach ihm stellen. Zehn vor acht. Und er trug sein Fahrrad durchs Treppenhaus nach unten. Doch da war niemand. Im Treppenhaus. Es war vollkommen still. Im ganzen Haus. Ich ging ins Wohnzimmer. Zum Fenster. Und blickte auf die Straßenkreuzung. Sie war leer. Keine Menschen. Keine Autos. Keine Busse. Nichts. Nichts, was sich bewegte. Da draußen. Ich suchte nach Lebenszeichen.  Irgendetwas musste es doch geben. Vielleicht in den Bäumen. So ging ich zum Küchenfenster. Von dort konnte ich in den Vorgarten sehen. Und suchte mit meinen Augen zuerst die Tanne und dann die beiden Rotbuchen ab. Dann sah ich sie: Eine Amsel. Wenigstens die Vögel, dachte ich. Das war doch ein gutes Zeichen. Trotzdem blieb dieses seltsame Gefühl. Ich musste mich umhören. Wie es den Anderen erging. Und wählte die Nummer einer Freundin. Die Leitung war tot. Ich rief eine andere Nummer an. Ich rief eine dritte Nummer an. Ich wählte viele Nummern. Dann wählte ich Nummern im Ausland. Nirgends ein Freizeichen. Alle Leitungen waren tot. Jetzt versuchte ich es mit einem anderen Telefon. Auch mit ihm kam keine Verbindung zustande. Ich ging ins Treppenhaus. Und sah, dass die Wohnungstüren meiner Nachbarn angelehnt waren. Ich öffnete vorsichtig die Tür meines Fahrradnachbarn. Alles leer. Alles ausgeräumt. Gänzlich. Keine Spur. Von ihm. Ganz im Gegenteil: Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand gelebt hatte. Ich ging weiter umher. Im Haus. Auf allen Etagen das gleiche Bild: Leere Wohnungen. Ich ging auf die Straße. Wo ja auch niemand war. Drei Blocks weiter begegnete mir ein Hund. Sein Fell war rötlich. Und gelockt. Er blieb direkt vor mir stehen. Seine Augen blickten sehr freundlich. Wir gingen in eine Einkaufsstraße. Die Läden waren geöffnet. Aber es war niemand darin. Niemand, der einkaufte. Niemand, der verkaufte. Ich nahm, was ich brauchte. Noch fand ich Gemüse. Und Obst. Bald würde ich auf Konservendosen umsteigen müssen.  Es kam ja kein Nachschub mehr. Aber die Vorräte würden reichen. Für mich. Und den Hund. Wir hatten ja die Stadt. Die ganze Stadt. Für uns. Allein. Wir machten lange Streifzüge. Und erkundeten die Stadt. Die Parks waren groß. Ohne Menschen. Die Museen auch. Der Hund mochte die Bilder. Besonders die Kubisten. Er setzte sich davor. Und betrachtete sie lange. Ich konnte ihn dann nur mit einem Ball wieder hinauslocken. Wir besuchten auch oft einen Tennisclub. Teilten wir doch unsere Liebe zu den Bällen. Ich trainierte zunächst an einer Trainingswand. Dann fand ich in einem versteckten Winkel des Clubhauses eine Ballmaschine, die mir die Bälle auf dem Platz zuspielte. Meine Technik machte sehr gute Fortschritte. Und endlich konnte ich mir abgewöhnen, die Rückhand beidhändig zu spielen. Der Hund brachte mir freudig die Bälle zurück. Die ich zwischendurch verschlug. Dann entdeckte ich eine Laubenkolonie. Und suchte mir zwei Gärten aus. Die ich fortan pflegte. So hatte ich doch noch Frisches, das ich anbauen und ernten konnte. Die anderen Gärten verwilderten. Mit der Zeit. Wurde ich krank, musste ich mir selber helfen. Hier war ja niemand mehr, der mir einen Zahn zog. Oder mir etwas gegen das Fieber gab. Und ich arbeitete weiter. An meinen Texten. Ich übersetzte. Jetzt sogar in drei Sprachen. Dann schenkte ich mir die fertigen Texte. Und las mir daraus vor. Eine gute Beschäftigung für die langen Abende. Im Herbst. Und Winter. Es war mein dritter Herbst. In der stillen Stadt.  Als der Regen kam. Der Regen war gelb. Es regnete drei Tage. Und drei Nächte. Alles wurde gelb. Alles war jetzt gelb. Auch ich. Und der Hund. Mit dem ich dann durch die gelbe Stadt lief. Drei Tage lang. Irgendwann fiel es ab. Von uns. Das Gelb. Wie Häute. Darunter war etwas gewachsen. Und wir zeigten uns. Anders. 

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