Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 28. August 2016

Der Empfang




(1)
Ich ging über den Boulevard. Es war die teuerste Straße der Stadt. Auf dem großzügig angelegten Gehweg, wo ich gerade flanierte, gab es Schaukästen. Sie waren in einem gleichbleibenden Abstand in einer Linie angelegt. Ihre goldene Einfassung und das Licht im Innern erinnerten mich an eine längst vergangene Zeit. In ihnen ließen sich auch heute noch die Auslagen der Geschäfte in Augenschein nehmen. Manchmal auch Kunstwerke. Ich blickte gerade auf meine Armbanduhr, als hinter einem Kasten jemand hervortrat. Und sich mir in den Weg stellte. Der Mann trug einen schwarzen Anzug. Und wirkte sehr gepflegt. Er entschuldigte sich auch sogleich für sein Auftreten. Dann wies er auf das Coupole, ein Restaurant, vor dem wir jetzt standen. Er sah mich an. „Jemand wartet dort auf Sie.“ Ich zögerte einen Moment. Dann folgte ich ihm.

(2)
Mein Begleiter öffnete die Tür. Ich trat ein. Und stand in einem Aufzug. Er drückte einen Knopf, wünschte mir einen guten Abend und die Aufzugtür schloss sich. Das Restaurant lag im Erdgeschoss. Und so hatte ich keine Idee, wohin mich dieser Aufzug jetzt brachte. Die Fahrt erschien mir sehr lang. Ich beobachtete die Zahlen auf dem Display. Gerade hatte ich die 50. Etage passiert. Als die 80 aufleuchtete, wurde ich unruhig. Kein Gebäude dieser Stadt hatte nur annähernd so viele Etagen. Dann hielt der Aufzug. Der 104. Stock. Die Tür öffnete sich. Ich trat hinaus. Und befand mich unter einer gigantischen Kuppel. Die Ränder der Kuppel lagen in weiter Ferne. Ich konnte sie nur schemenhaft erkennen – bewegte mich aber langsam darauf zu. Dann sah ich, dass die Kuppel die Stadt überspannte. Wie ein Schirm. Es war ein durchsichtiger Schirm. Jedoch nicht aus Glas. Auch nicht aus Plastik. Ich fragte mich, was es war.

(3)
A:           „Eine zellfreie Schicht. Mesogloea genannt. Sie ist gallertartig. Und besteht zu 99 % aus Wasser. Deshalb ist die Kuppel durchsichtig. Und wir können diesen grandiosen Blick über die Stadt genießen.“
B:           „Sie haben den Körperbau der Quallen imitiert und so die Kuppel 
               gebaut?“
A:           „Ja, genau so. Sie sind übrigens der erste Gast, der den Bezug zu den Quallen herstellt. Aber wir haben Sie ja nicht ohne Grund hier hoch gebeten.“  

(4) 
Der Mann, mit dem ich sprach, glich dem Mann von unten. Ich war mir aber nicht sicher. Wenn er es war, hatte ich keine schlüssige Antwort, wie er so schnell in den 104. Stock kommen konnte. Vielleicht gab es noch einen zweiten Aufzug. Oder er war irgendwie sonst hier hochgestürzt. Vor mir stand jetzt ein gedeckter Tisch. Auf ihm befand sich eine Karaffe mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Ein Glas. Messer und Gabel. Eine Serviette. Und ein Teller. Ich nahm Platz. Das Gericht bestand aus fünf Kartoffeln, einigen grünen Bohnen und einem Balken, der etwa die Größe eines Knäckebrots hatte.  

(5)
A:           „Lassen Sie es sich schmecken.“
B:           „Danke.“
A:           „Sie zögern? Sie fragen sich, was das für ein Balken ist?“
B:           (lacht) „Ja, das frage ich mich. Ein ungewöhnlicher Hauptgang für das 
                Coupole.“
A:         „Das ist ein Energyriegel. Der hilft, um hier wieder hochzustürzen. Wir haben Sie übrigens eine ganze Weile begleitet. Und erforscht. Dort unten. (weist in Richtung Stadt) Und dann sind wir zu einem Ergebnis gekommen: (feierlich) Wir möchten Ihnen anbieten, sich hier hinunterzustürzen.“

(6)
Ich aß die Kartoffeln. Die Bohnen. Den Energyriegel. Und dann sprang ich.

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