Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Samstag, 20. August 2016

Automatischer Dienst



Wenn mich etwas beschäftigt oder ich etwas loswerden muss, dann rufe ich eine dieser Nummern an. Es sind diese Nummern, bei denen eine Ansage läuft. In Dauerschleife. Der Seewetterdienst, die Pollenflugansage, eine Behörde nach Dienstschluss, die Ansage der Lottozahlen, meine Mailbox. Manchmal ist es auch eine Arztpraxis. Ich rufe größere Praxen an. Nachts. Gemeinschaftspraxen. Sie haben lange Ansagen. Ich wähle aus verschiedenen Optionen, die das Menü anbietet. Es gibt Unterkategorien. Für Rezepte. Terminvereinbarungen. Laborwerte. Ich spreche in den Hörer, wenn mir die Ansagestimme gefällt. Ich mag es, wenn die Stimme wieder neu einsetzt. Am Anfang. Sich wiederholt. Und ich spreche. Noch immer. Es ist ein bisschen ein dagegen Anreden. Aber auch ein Gefühl des Getragenwerdens. Durch die Stimme. Bis zum Ende. Und ich alles gesagt habe. Jemand hat einen Ansagetext aufgenommen. Ich höre eine Stimme. Die vor drei Tagen, zwei Wochen, sechs Monaten, drei Jahren diese Sätze sprach. Und ich kann reden. Im Beisein, in Begleitung dieser Stimme. Gestern habe ich die Zeitansage angerufen. Um eine Beichte abzulegen. Es war 0.04 Uhr, als ich die Nummer wählte und die aktuelle Zeit hörte. Um 0.38 Uhr hatte ich alles gesagt. Und fühlte mich besser. Vielleicht laufen in diesen Einrichtungen, bei denen ich anrufe, um Ansagen zu hören, Bänder. Gegenbänder. Die in diesen Büros und Räumen, in diesen technischen Anlagen, wo die Ansagen laufen, mitschneiden, was ich sage. Weil diese Ansagedienste eigentlich Auffangstationen sind. Es sind Geschichtenfänger. Stoffsammler. Und jemand schreibt. Und jemand hört. Und jemand schreibt. Vielleicht bestehen die meisten Bücher aus diesen eingefangenen und aufgefangenen Geschichten. Heute Nacht werde ich wieder eine Nummer wählen. Den automatischen Weckdienst. Und die Bänder laufen lassen.



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