Das Zelt war von innen viel weitläufiger,
als es von außen den Anschein machte. Ich hatte mit einem Zirkuszelt gerechnet,
wie ich es von kleinen Wanderzirkussen kenne, die in Dörfern gastieren. Aber
der Innenraum hier war ganz anders. Ich zählte fünf Manegen. Die auf
unterschiedlichen Ebenen angeordnet waren, ohne sich zu berühren. Die
Vorstellung war als Zirkusprogramm angekündigt. So erwartete ich Stroh in den
Manegen. Zumindest in einer. Ich hoffte, Elefanten zu sehen. Tiger. Pferde. Und
vielleicht auch Affen. Aber ohne Stroh auf dem Boden schien mir das unwahrscheinlich.
Die Zuschauerlogen in dem Zelt waren steile Ränge. Ich schaute auf meine
Eintrittskarte: Platz 332. Er befand sich in der dritten Reihe. Direkt am Gang.
Ich setzte mich. Das Licht im Zelt war rötlich und verströmte eine warme
Atmosphäre. Die Vorstellung sollte um 18 Uhr beginnen. Jetzt war es zehn vor
sechs. Ich wurde ein wenig unruhig. Denn bisher gab es keine weiteren Zuschauer.
So saß ich allein im Zelt. Auf meinem Platz 332, als pünktlich um 18 Uhr die
Vorstellung begann. In der ersten Manege tauchte nun der Zirkusdirektor auf. In
Weste. Und Zylinder. Und als er näher kam und mich begrüßte, bemerkte ich, dass
es eine Frau war. „Willkommen in der Vorstellung“, begrüßte sie mich. „Heute
Abend geht alles um Ihre Vorstellung.
Es ist Ihre Vorstellung.“ Und so bat
sie mich, meine Augen zu schließen und mir eine Blume vorzustellen. Als ich
meine Augen wieder öffnete, wuchs genau diese Blume in der zweiten Manege. Und
die Zirkusdirektorin pflückte die Blume und überreichte sie mir. Das war das
erste Mal, dass ich eine Vorstellung in Händen hielt. Als nächstes sollte ich
mir eine Landschaft vorstellen. Die dann in der dritten Manege zu sehen war:
Ein felsiges Gelände. Mit Flechten und Moosen. Das Gestein ganz hell. Und es
gab einen Wasserfall. Die Direktorin lud mich ein, in die Manege zu kommen. Und
fragte mich, was ich tun wollte. In dieser Landschaft. „Ich möchte durch den
Wasserfall gehen“, sagte ich. „Hinter den Wasserfall.“ Und sie nickte mir zu.
Als ich durch den Wasserfall ging, war nichts dahinter. Mit nichts meine ich,
dass dort ein Weiß war, ein so strahlendes Weiß, das alles in sich aufnahm,
alles in sich verschluckte, sodass nichts mehr war. Ich ging zurück. Durch den
Wasserfall. In die Manege. Die Zirkusdirektorin erwartete mich schon. Jetzt bat
sie mich, mir vorzustellen, was hinter dem Wasserfall ist. Sogleich stand ich
in einer Felsenkathedrale mit einer reich gedeckten Tafel. Ich setzte mich. Aß
und trank köstliche Speisen und Getränke. Dann ging ich gestärkt zurück. In das
Zelt. Und setzte mich wieder auf meinen Platz. 332. Die Direktorin stand jetzt
in der vierten Manege. Sie forderte mich auf, mir das Innere ihres Kopfes
vorzustellen. Das Innere ihres Kopfes war ein engmaschiges Netz. Das klang. Und
es gingen Lichtimpulse durch einzelne Stränge, die ich mit bloßem Auge
verfolgen konnte. Ich sah, wie sich einzelne Bahnen und Knotenpunkte neu
miteinander verbanden. Und wie sich das Netz an einigen Stellen weiter
verdichtete. „Schaffen Sie Raum in meinem Kopf“, bat sie mich. Ich nahm einen
Kamm. Und kämmte das Netz. Das ganze Geflecht. Um alles noch enger und dichter
zusammenzuschieben (wie auf einem Webrahmen), sodass Platz entstand. Auf der
fünften Ebene sollte ich mir mich selbst vorstellen. Zuerst mein Außen. Und da
all dies in meiner Vorstellung geschah und ich mich auch nur auf mein
Vorstellungsvermögen, auf meine Erinnerung, auf diese tausend und abertausend
Spiegelblicke (meiner selbst) verlassen konnte und darauf zurückgriff, war das,
was ich sah, anders. Anders als ich. Meine Gesichtsform wich ab. Die Frisur wich
ab. Die Länge meiner Beine. Die Breite meiner Schultern. Die Nase. Mein
Augenausdruck. Als nächstes sollte ich mir mein Inneres vorstellen. Ich sah das
Netz. In meinem Kopf. Und auch hier schaffte
ich mehr Raum. Mit dem Kamm. Platz für die sechste Manege. In meinem Kopf. Sodass
ich umherziehe. Seither. Mit meinem Wanderzirkus. Von Ort zu Ort.
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