Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 10. Januar 2016

Passage



In meiner Straße hat ein Boot angelegt. Ein kleines Segelschiff mit einem Mast. Man hat es an einer Laterne vertäut. Ich sehe zwar kein Wasser (ich gehe ja hier), aber es schwimmt. Und bewegt sich sanft - wie zum Rhythmus von Wellen. Die Menschen auf dem Boot geben mir Zeichen, zu ihnen zu kommen. Auf ihr Schiff. Schon legen wir ab. Und schippern langsam die Straße entlang. Ein Steward tritt an mich heran. Er trägt einen dunkelgrünen Anzug aus Samt, den an Schultern und Ärmeln Goldbordüren zieren. Er führt mich herum. Das Boot hat im Innern Ausmaße, die ich ihm von außen nicht angesehen habe. Wir betreten einen Saal. Den Speisesaal. Die Tische sind festlich eingedeckt. Hier findet eine größere Gesellschaft Platz. Und der ganze Raum ist geschmackvoll eingerichtet: Ich laufe über Tafelparkett und lasse meine Finger über Brokatstoffe und Holzvertäfelungen gleiten. Dann folgen wir mehreren Korridoren, und mein Begleiter zeigt mir meine Kajüte, die sehr geräumig ist. Ein Stockwerk höher betreten wir die Schiffsbibliothek. Ich betrachte die unzähligen Regalreihen. Und eine Sammlung alter Landkarten und Globen. Dann halte ich einen Kompass aus Messing in den Händen. Wir sind schon eine ganze Weile unterwegs, sagt der Steward. Und zwinkert mir freundlich zu. Im Anschluss öffnet er ein Portal. Dahinter zeigt sich ein Raum, der ganz aus Glas ist. Die Wände. Und auch der Boden. Wir nennen das hier Fenster zur Welt. Sehen Sie sich ganz in Ruhe um. Ich blicke hinaus: Noch immer segeln wir langsam durch meine Straße. Gerade passieren wir das Gartentor meiner Nachbarn. Jetzt wende ich mich dem Boden zu. Ich blicke hinunter. Durch das Glas. Und sehe Korallenbänke, Seeanemonen und leuchtende Fische. Nun sind wir auf der Höhe meines Hauses. In meinem Wohnzimmer sind drei Delfine, die dann durch die Verandatür in meinen Garten schwimmen. Wir folgen der Straße. Weiter. In Richtung Wald. Jetzt geht es die Anhöhe hinauf. Die Route meines täglichen Spaziergangs. In den Birkenwald. Oben angekommen, blicke ich auf ein offenes Meer. Spüre die frische Brise. Und atme salzige Luft. Und jetzt weiß ich: Ich lebe am Meer.

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