Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 18. Februar 2015

Netzhaut & Trommelfell



für M. 
 


Ich könnte vom Holz der Veranda berichten, über seine Maserung, seine Trockenheit, seine Bohr- und Astlöcher. Oder vom Kies, der den Weg vor mir bedeckt hält in seinem schroffen, staubigen Grau. Es gäbe auch etwas zu sagen über das Tal, den See und die Bergkette. Und über mein Auge. Das Sehen schmerzt heute. Da ist ein leichter Brand auf meiner Netzhaut. Ein Ziehen. Irgendetwas ist schadhaft an meinem Auge. Ich blicke in den Spiegel. Die Netzhaut bewegt sich. Sie löst sich ab und gleitet zu Boden. Auf das Holz, den Kies. Dann zieht sie weiter. Ins Tal hinein bis an den See, wo sie Fische fängt, Schuppentiere, mit denen sie wieder an Land kommt. Sie kehrt zurück zu mir mit ihrem reichen Fang und legt sich, unmerklich fast, wieder auf mein Auge und spielt mir Bilder zu. Sie pflanzt Bilder in mein Auge. Sie gehen auf, werden größer und dichter. Sie mästet mein Auge. Bilderfraß. Eine fremde, ungewohnte Speise.  Vielleicht wird mir schlecht davon. Ich kann sie ausspeien. Das kann ich nicht. Ich bin randvoll mit Bildern angefüllt. Augendruck. Augenweh. Ich schließe es.
Die Netzhaut hat eine Seezunge gefangen. Sie spricht jetzt. Ich höre sie deutlich. Sie formt Augenschmaus und Augentrost. Ihre Stimme wird fester. Sie spricht klar und deutlich. Sie sagt: Bedienen Sie sich. Nehmen Sie reichlich. Ich habe einen guten Fang gemacht. Sie summt, singt und pfeift. Ich sehe was, was du nicht siehst. Darüber lacht sie. Und schmatzt dabei. Ich möchte ihr etwas entgegnen, bleibe aber ungehört. Vielleicht fehlt ihr ein Hörorgan. Sie spricht ohne Unterlass bis in die Nacht hinein. Schon wünsche ich mir, sie möge wieder aufbrechen zu ihren Streifzügen, sich endlich aufmachen in Richtung See und mich derweil blind zurücklassen. Dann zieht sie tatsächlich los, nichts kündigt ihren Aufbruch an. Sie lässt mich stehen oder liegen. Ihr Fortgang trifft mich in Räumen, auf Straßen oder Plätzen, Gehöften, im Feld. Sie bleibt weg. Stunden. Nächte. Tage. Ich warte auf sie. Dann vernehme ich sie ein letztes Mal. Sie kriecht unter das Holz der Veranda, schlüpft in die Erde hinein, die sich hinter ihr schließt.
Ich könnte vom Holz der Veranda berichten, über sein Knarren und Knacken und wie es sich anhört, wenn ein Vogel darüber läuft. Oder vom Kies, der den Weg vor mir bedeckt hält mit seinem schlurfenden, schabenden Ton. Es gäbe auch etwas zu sagen über das Tal, den See und die Bergkette. Und über mein Ohr. Das Hören schmerzt heute. Da ist ein leichter Brand auf meinem Trommelfell. Ein Ziehen. Irgendetwas ist schadhaft in meinem Ohr. Ich blicke in den Spiegel. Das Trommelfell bewegt sich.

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