Nach Kairo bin ich dann aber doch gefahren. Über Nacht, in einem Konvoi
aus acht Reisebussen, begleitet von zwei Militärfahrzeugen und einem
Bewaffneten, der direkt neben dem Busfahrer saß. Alles zu unserer Sicherheit.
Irgendwann bin ich eingeschlafen und dann wieder aufgewacht. Mein Magen
krampfte. Ich zog das T-Shirt hoch. Was war das denn? Beunruhigt betrachtete
ich die Wölbung – mein Bauch war ja ganz aufgeworfen! Einige Minuten später
benutzte ich die Bustoilette. Und das wiederholte ich dann. Die Mienen meiner
Mitreisenden verfinsterten sich, einige schauten mich schon angewidert an.
Mitten in der Wüste machten wir Rast an einer Tankstelle. Ich blieb einfach
sitzen, weil ich mich zu schwach fühlte. Wie glücklich war ich, dass mir ein
Paar, das weiter hinten saß, eine Cola mitbrachte. „Vielleicht hilft Ihnen das
ja ein bisschen, Sie Armer“, sagte die Frau, und der Mann klopfte mir
aufmunternd auf die Schulter. Ich trank. Und tatsächlich ging es mir danach ein
wenig besser. Erleichtert ließ mich in meinen Sitz fallen. „Großes
Gänsebratenessen mit Familie...“ - die
Stimmen meiner Mitreisenden kamen wieder näher. „Wir haben keine Probleme...“
Die Frauen vor mir unterhielten sich. „Wenn du die Enkelchen sehen willst...“ ---
Endlich ein bisschen Ablenkung. Ich lehnte meinen Kopf ans Fenster, schloss die
Augen und ließ sie weiterreden:
Da musste ich mal was sagen am Strand. Stell dir vor, da taucht
plötzlich sowas Strubbeliges auf, nimmt den Rucksack und geht. Der muss sich
dann direkt unter der Sandoberfläche verbuddelt haben. (lacht) Lass mal. Wir
beiden. Wir haben einen Gedanken. Stößchen. Korn schmeckt nicht. Muss kalt
sein. Mir macht das nichts. Jaja, wie damals mit zwanzig. Unsere Jägermeisterzeit.
Da stand auf der Flasche: Bitte eiskalt servieren. So kalt kriegste den ja in
keiner Kühlung. Das schmeckt schon alles gut. Nee, Champagner nicht. Muss ja
nicht jeder trinken. Sekt ist besser. Was denn für´n Sekt? Jules Mumm. Den
gibt´s jetzt als Rosé. Der Wolfgang, der hat auch gern Sekt gemocht. Der Wolfgang
konnte nicht laufen. Aber essen. Ich musste ja meine Buletten loswerden zu
Pfingsten. (lacht) Ich dachte, an Pfingsten siehst du keine Tiere. Das war
nicht Wolfgang. Das war der Dicke. Da haben wir doch alle gesoffen. Weil es so
kalt war. Meine Mutti war Alkoholikerin. Nein aber. Ach ja. Der ging´s ja so
dreckig. Hat sich ´ne Sehne gequetscht. Ach ja. Aber schmerzfrei an ihrem
Geburtstag. Jaja. Nee. Das kann ich verstehen. Um Gottes Willen. Mit jedem
Jahrzehnt ändert sich was. Dank der Tussi. Welche Tussi? Na damals – als ihr
noch verheiratet wart. Nee, da hab ich glich gedacht: Das geht ja gar nicht! Da
stand nur Kaffee und Wasser. Aber du wolltest der ein Bier ausgeben. Warst du
da ölig. Ach, halt die Klappe! Ich kann das nicht mehr hören. Und der letzte
Trip? Malle? Nee, Malediven. Wie lange fliegt man denn da? Also 11 Stunden. Und
- hat das geklappt? War nicht so schlimm, da kannste ja die ganze Zeit essen
und trinken. Aber 11 Stunden ohne zu rauchen? Ging auch. Und dicke Beine?
Meistens zieh´ ich ja Thrombosestrümpfe an. Es gibt so widerlichen Frauenfüße.
Da denkste, Frauen haben keine Stinkefüße. (lacht) 11 Stunden Stinkefüße. Und
ich dann zum Steward: Bring mir Champagner. Hat aber keinen gebracht. Der
Service war halt scheiße. Business ist ja eh besser. Und Renate? Mit Brille?
Jaja. Schon lange. Da wolltet ihr doch im Herbst hin. Die Autobahn. Alles
dicht. Alles zu. Gerade jetzt, wo Ferien sind. Aber danach. Hattest du nicht ´nen
Termin jetzt? Ach ja – wenn das Blut kocht. Da bist du wieder zum Anwalt hin?
Jetzt am Dienstag. Ich ruf dich an. Oder fliegst du am Mittwoch? Ich ruf dich
an, ok? Jaja, ich kenn das. Jeder Mensch macht im Leben einen großen Fehler.
Und deiner war, dass du den geheiratet hast. Ach, hier in dem Laden. Ach so.
Ach, ist das süß. Da krieg ich ´ne Gänsehaut. Nee, ehrlich. Doof ist man nun
auch nicht. Ich hab das verteidigt. Ich hab das genossen. Ja. Warum? Weil der mich
so geliebt hat. Hör mir bloß auf. Ich kenn doch die Story. Bloß, Schatzele, du
machst ja selten, was man dir sagt.
Ich öffne die Augen: Das muss Kairo sein. Müllberge und Gebäudesklette.
Mehrstöckige Rohbauten ohne Fassaden und Fenster. Aber irgendwas bewegt sich
da. Das sind ja Menschen! Menschen, die
in den Gebäuden herumlaufen. Herumstehen. Herumliegen. Wir fahren weiter.
Im Hotel angekommen, sage ich bei der Reiseleitung meine Teilnahme an
der Stadtrundfahrt ab und gehe direkt auf mein Zimmer. Von dort aus habe ich
einen unverbauten Blick auf die Pyramiden, die mit Anbruch der Dunkelheit
farbig angestrahlt werden. Ich lasse die Vorhänge offen und beobachte vom Bett
aus das Farbspiel aus Grün, Blau und Rot, ein sich drehendes Prisma, das
schließlich immer mehr verschwimmt.
Am nächsten Tag fährt man mit uns zu den Pyramiden. Ich entscheide mich
für die kleinste, die Mykerinospyramide. Am Eingang steht ein Mann, dem ich
einen Geldschein gebe und der mich dann mit einem leichten Schubs in den Gang
bugsiert. Unglaublich schmal und niedrig ist es hier. Ich gehe gebückt weiter,
blicke noch einmal zurück - doch da taucht auch schon der nächsten Besucher am
Eingang auf. Es geht immer tiefer hinein. Der Gang wird noch enger und die Luft
immer stickiger. Ich gehe schneller, um endlich anzukommen. Die Kammer! Endlich
unten! --- Kein Sauerstoff. Und einen Schatz gibt es auch nicht. Der Raum füllt
sich. Ich schwitze. Raus! Nur raus hier! Ein Gang, der nach oben führt. Weiter,
lauf weiter! Und dann plötzlich dieser Mann vor mir. Ziemlich füllig. Ich höre
sein Schnaufen. „Sorry“, keucht er. „Move on!“, schreie ich und stoße ihn vor
mir her. „Bleib jetzt bloß nicht stecken, du fettes Schwein!“ Dann endlich das
erlösende Licht und Hände, die mich herausziehen. Im Bus komme ich wieder zu
mir. Ich schaue aus dem Fenster: Eine Gruppe Japaner. Sie tragen Baumwollhüte
und kleine Schirme gegen die Sonne. Hüte und Schirme. Schirme und Hüte. Das
beruhigt mich. Ruhig. Ganz ruhig. Dann klopft jemand an die Scheibe.
„Cheese“, lacht der Mann. Und ich kann
mich gar nicht mehr schnell genug ducken.
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