Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Samstag, 15. November 2014

Ulula - Ein Märchen




Irgendetwas hatte sich verändert. Ich blickte nach links in Richtung des Bachs, dessen Verlauf ich schon seit Stunden folgte. Ja, das war es: Es war vollkommen still. Ich stand auf einem Weg, umgeben von einem dichten Fichtenwald und hörte --- nichts. Wann hatte diese Stille denn eingesetzt?  Ich versuchte, mich zu erinnern und ging den Weg in Gedanken zurück: Vor etwa einer Stunde hatte ich eine Rast gemacht und - auf einer Holzbank sitzend - zwei Jungvögel bei ihren ersten Flugversuchen beobachtet. Und natürlich waren da ihre Schreie und Rufe gewesen. Später war ich näher an den Bach herangetreten, hatte mich vorn über gebeugt und mit der Hand Wasser geschöpft, weil ich sehr durstig war. Das Rauschen des Baches hallte noch in meinen Ohren nach, als wären seitdem nur einige Minuten vergangen. Ich zertrat nun einige Zweige, die vor mir auf dem Weg lagen. Kein Knacken. Vielleicht war meine Bewegung nur zu zögerlich gewesen. Ich hob die Arme, führte meine Hände direkt vor mein Gesicht und schlug beide Hände zusammen. Ich spürte einen leichten Lufthauch, hörte aber nichts. Obwohl mir diese Situation missfiel und ich mir auch keine Antwort auf diese vollkommene Stille wusste, folgte ich dem Weg, der jetzt steil anstieg. Oben angekommen, befand ich mich plötzlich auf einem Bergkamm, der sich vorher gar nicht angedeutet hatte, ein schmaler Grat, auf dem ich hier wanderte. Auf beiden Seiten des Wegs ging es steil hinab und der Bereich unter mir schien von Nebel gefüllt, obwohl es hier oben vollkommen klar war. Da ich die schmale Stelle so schnell wie möglich passieren wollte, ging ich zügig weiter und vermied es, meinen Blick schweifen zu lassen. Ich konzentrierte mich auf den nächsten Schritt und kam sicher und gut voran. Der Weg änderte nun seine Richtung, führte jetzt wieder steil hinab, das Tal war schon auszumachen, als ich plötzlich aus der Bewegung heraus halt machte. Ich stand vor einem geschlossenen Fenster. Ich trat näher heran: Ein weißes Sprossenfenster, doppelverglast, die Farbe leicht abgeblättert, mit geschwungenem Griff, alles schöner, alter Bauart. Ich klopfte an die Scheibe. Nichts regte sich. Ich wartete eine Weile, klopfte erneut, diesmal etwas nachdrücklicher. Das Fenster öffnete sich und vor mir stand eine Eule, die etwa meine Größe hatte. Sie sah mich freundlich an und fragte mich mit ruhiger Stimme: „Wie lautet das Passierwort?“ „Das Passierwort?“, entgegnete ich, verblüfft und zugleich erleichtert, endlich wieder etwas zu hören. Die Eule sah mich lange an. Jetzt fiel mir auf, dass sie eine bunte Uniform mit goldenen Knöpfen trug. "Nun, wenn Sie es nicht kennen, dann schauen Sie sich bitte in aller Ruhe um und versuchen Sie es in einer Stunde noch mal. Klopfen Sie dreimal. Wer dreimal klopft, dem wird aufgetan." Darauf nickte mir die Eule aufmunternd zu und schloss das Fenster. Das Passierwort, überlegte ich jetzt, musste eine Art Losungswort oder Code sein. Ich sollte mich umsehen, dachte ich, mich an die Worte der Eule erinnernd. Der Weg, der Wald, der Himmel. Ich musste genauer sein. Ich suchte mit meinen Augen die nähere Umgebung ab und drehte mich dabei langsam um meine eigene Achse. Als ich das Fenster im Rücken hatte, fiel mir am Wegesrand etwas Blaues auf. Ich ging darauf zu und bemerkte im Herangehen, dass es eine Blume war, die die Form einer Glocke hatte. Als ich direkt vor ihr stand, begann sich die Blüte zu bewegen und ich hörte ein Läuten wie von weither. Verwundert betrachtete ich das sonderbare Gewächs, kniete mich nieder und sah dann direkt neben ihr etwas Quadratisches, von Moos Überzogenes von der Größe eines Pflastersteins. Ich befühlte es - und tatsächlich: Es schien ein Stein zu sein. Vielleicht hatte er einmal als Grenz- oder Meilenstein gedient.  Ich griff in meinen Lederbeutel, holte das Messer hervor und begann, die Moosoberfläche sorgfältig abzuschaben. Da zeichnetet sich etwas ab. Es war eine Einkerbung und ich spuckte mehrmals auf den Stein, um ihn zu reinigen und das Eingeritzte entziffern zu können. Es war eine Zahl. Und ich fuhr mit dem Zeigefinger die Linienführung nach, um wirklich sicher zu sein. 65. Möglicherweise hatte ich mit dieser Ziffer das Passierwort gefunden, das ich nun unverzüglich der Eule mitteilen wollte. Ich ging also erneut auf das Fenster zu, klopfte dreimal und die Eule öffnete sofort, als hätte sie direkt hinter der Scheibe auf mich gewartet oder meine Suche sogar mitverfolgt. Wieder sah sie mich freundlich an und fragte mit ruhiger Stimme: "Wie lautet das Passierwort?" "65", entgegnete ich - noch etwas verunsichert. "Gut. Ziehen Sie das zusammen." Ich zögerte. Was nur sollte ich zusammenziehen?  "11", sagte ich, um mein Glück zu versuchen. Die Eule nickte anerkennend. "Besser. Aber noch enger. Ziehen Sie es weiter zusammen." Nach der ersten geglückten Operation war dies nun ein Leichtes und schnell ließ ich die Zahl 2 folgen. Darauf öffnete die Eule das Fenster, verbeugte sich und bat mich einzutreten. Auf der anderen Seite des Fensters eröffnete sich direkt vor mir das Tal, das ich schon aus der Ferne gesehen hatte. Die Eule schob mich sanft voran. "Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Das Vieh will aus der Haut fahren. Dieses Spektakel müssen Sie sich unbedingt ansehen." Die Eule bemerkte, dass ich nicht gleich verstand und lachte. "Es ist alles ein wenig sonderbar hier. Beispielsweise ist das Tal in vier Teile geteilt. So sind hier alle Jahreszeiten vertreten. Aber sehen Sie sich nur in aller Ruhe um. Sie wissen ja, wo Sie mich finden." Sie klopfte mir sanft auf den Rücken, spreizte ihre Schwingen und flog geschwind davon. Der Satz über das Vieh hatte mich neugierig gemacht und so beschloss ich, mit meinem Rundgang zu beginnen. Den Farben und der Temperatur nach zu urteilen musste dies der sommerliche Teil des Tals sein. Alles lag in sattem Grün vor mir, die Grillen zirpten und die Bäume mit ihren schweren, weißen Blüten verströmten einen mir unbekannten Duft. In einiger Entfernung sah ich eine gepflegte Rasenfläche, auf der mehrere Kühe standen und in ein Gespräch vertieft zu sein schienen. Als sie mich näher kommen sahen, riefen sie immer wieder: "Da ist die Person! Da ist die Person!", drehten sich derweil immer schneller im Kreis, bis ich ihre klaren Konturen gar nicht mehr deutlich ausmachen konnte, und plötzlich geschah etwas völlig Unerwartetes: Das Tempo verlangsamte sich wieder und gleichzeitig öffnete sich das Fell der ersten Kuh, als zöge jemand an einem Reißverschluss. Dieser Vorgang wiederholte sich nun auch bei allen anderen Kühen. Und unter ihrem nun abgelegten Fell kam eben diese bunte Uniform mit den Goldknöpfen zum Vorschein, die auch die Eule trug. Die Kühe kamen nun in meine Richtung, die Kleinste von ihnen trat schließlich hervor und sagte: „Sie müssen weiter. Gehen Sie immer geradeaus, bis Sie an die schmale Schlucht kommen. Auf der anderen Seite beginnt der Herbst. Aber seien Sie vorsichtig. Von Zeit zu Zeit tritt Feuer oder heißer Dampf aus. Viele schon sind zu leichtfertig gewesen.  Es gibt Wächter, die Ihnen helfen werden. Handeln Sie nicht zu eigenmächtig." Ich bedankte mich und brach auf. Mein Weg war von haushohen Fuchsien und Rhododendren gesäumt und eine ganze Weile begleitete mich ein Hase, der fröhlich vor sich hin pfiff. Nach mehreren Kilometern blieb der Hase plötzlich stehen. "Für mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Ich muss hier links abbiegen, um die Silberlichtung noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Gehen Sie einfach hier weiter. Sie können die Schlucht gar nicht verfehlen." Wir nickten uns zum Abschied zu und schon war der Hase verschwunden. Jetzt war das Ende des Weges bereits sichtbar und ich vermutete, mein Ziel bald erreicht zu haben. Beim Näherkommen erkannte ich drei Gestalten, die leicht vornüber gebeugt dicht beieinander standen. Als ich fast bei ihnen war, drehten sie sich in meine Richtung. "Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Es dauert noch ein, zwei Minuten, dann ist alles gar." Ich sah nun, dass sie einen Rost über die Schlucht gelegt hatten, die mir jetzt eher wie eine Spalte erschien, so schmal war sie. Auf dem Rost lagen allerlei Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Alles schien ineinander zu fließen und beständig Farbe und Form zu verändern. Aus der Spalte trat eine ungemeine Hitze aus. Die mittlere Gestalt ergriff nun das Wort: "Das ist eine Erdspalte.", erklärte sie. "Alles, was hier hineinfällt, gelangt bis zum Mittelpunkt. Wunderbar, aber ohne Wiederkehr." "Ohne Wiederkehr, ohne Wiederkehr.", murmelte es, während das Gegarte gleichmäßig auf vier große Seerosenblätter verteilt wurde. "Essen Sie. Das wird Ihnen gut tun nach Ihrer langen Wanderung und Sie haben ja auch noch einiges vor sich, wie wir hörten." Es schmeckte ganz vorzüglich. Ich wurde gebeten, das große Blatt trocknen zu lassen. "Sie benötigen es gleich, um die Spalte zu passieren.", erklärte nun die dritte Gestalt, die sich bisher noch gar nicht geäußert hatte. Nach einer Weile forderten sie mich auf, das Blatt nun hineinzuwerfen und erst auf ihr deutliches Signal hin die Spalte zu überschreiten. Ich trat also an die Felskante, ließ das Blatt behutsam hineinfallen und trat wieder einen Schritt zurück. Plötzlich spuckte die Spalte eine riesige, heiße Dampfwolke aus. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. "Sie ist heute besonders gierig. Aber springen Sie. Springen Sie nun hinüber." Die eine Gestalt gab mir einen leichten Stoß und schon hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Vor mir stand eine große Holztafel und ich las: "Herbst. Vorübergehend geschlossen. Bitte gehen Sie zügig dem Winter entgegen. Alle Wege führen zum See." Ich entschied mich für den mittleren und ging schnell weiter, denn es wurde auch schon spürbar kühler. Am Ufer des Sees gab es eine kleine Holzhütte, auf die ich direkt zuging. An der einen Seite befand sich eine Art Theke und in den Regalen dahinter entdeckte ich weiße und schwarze Schlittschuhe, alle sorgsam nach Größen geordnet. Nun trat ein kleines Mädchen aus der Hütte und musterte mich von Kopf bis Fuß. "42", sagte sie. "Von Ihrem Kopf mal ganz zu schweigen." "Ich verstehe nicht ganz.", entgegnete ich. Sie griff in ein Regal und legte ein paar Schlittschuhe auf die Theke. "Ich habe im Laufe der Jahre meinen Blick geschärft. Probieren Sie diese." Ich zog sie an  - und tatsächlich, sie passten einwandfrei. "Und nun rüber mit Ihnen - aber das Bezahlen nicht vergessen", rief das Mädchen mir zu. "Was schulde ich Ihnen?", fragte ich zögerlich. "Und wozu denn nur die Kufen?", entfuhr es mir noch. "Lassen Sie mir Ihre Schuhe da. Der See ist zugefroren und nur die Kufen bringen Sie dort hinüber. Schnell noch zum Frühling mit Ihnen und dann zurück zum Fenster, bevor die Sonne untergeht." Ich legte meine Wanderschuhe auf die Holztheke und ging zum See hinunter. Mit gleichmäßigen Schwüngen glitt ich voran, der kühle Wind durchfuhr leicht mein Haar, und problemlos erreichte ich das andere Ufer. Erleichtert stellte ich fest, dass ich die Kufen vollkommen heruntergefahren hatte und ich meine Wanderung in den Schuhen nun ungehindert fortsetzen konnte. Da die Zeit drängte, nahm ich mir nur einen kurzen Augenblick, um die wunderbaren Kirschblüten zu betrachten. Dann tauchte auch endlich das Fenster wieder vor mir auf. Ich klopfte, aber niemand öffnete. Dann fiel mir ein, dass man mich möglicherweise auch auf dieser Seite nach einem Passierwort fragen würde. Vorsorglich untersuchte ich die nähere Umgebung, um nach Anhaltspunkten Ausschau zu halten. Zu meiner Erleichterung entdeckte ich zwei runde Steine, deren Oberfläche ich sogleich mit meinem Messer bearbeitete. Plötzlich hörte ich ein Knacken direkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah die Eule, die auf mich hinunterblickte und mein Tun betrachtete. "Hier ist alle Mühe zwecklos.", sagte sie. "Runde Steine setzen kein Moos an."  Und dann verschwand sie.

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