Irgendetwas hatte sich
verändert. Ich blickte nach links in Richtung des Bachs, dessen Verlauf ich
schon seit Stunden folgte. Ja, das war es: Es war vollkommen still. Ich
stand auf einem Weg, umgeben von einem dichten Fichtenwald und hörte --- nichts.
Wann hatte diese Stille denn eingesetzt? Ich versuchte, mich zu erinnern und ging den
Weg in Gedanken zurück: Vor etwa einer Stunde hatte ich eine Rast gemacht und -
auf einer Holzbank sitzend - zwei Jungvögel bei ihren ersten Flugversuchen
beobachtet. Und natürlich waren da ihre Schreie und Rufe gewesen. Später war
ich näher an den Bach herangetreten, hatte mich vorn über gebeugt und mit der
Hand Wasser geschöpft, weil ich sehr durstig war. Das Rauschen des Baches
hallte noch in meinen Ohren nach, als wären seitdem nur einige Minuten
vergangen. Ich zertrat nun einige Zweige, die vor mir auf dem Weg lagen. Kein
Knacken. Vielleicht war meine Bewegung nur zu zögerlich gewesen. Ich hob die
Arme, führte meine Hände direkt vor mein Gesicht und schlug beide Hände
zusammen. Ich spürte einen leichten Lufthauch, hörte aber nichts. Obwohl mir
diese Situation missfiel und ich mir auch keine Antwort auf diese vollkommene
Stille wusste, folgte ich dem Weg, der jetzt steil anstieg. Oben angekommen,
befand ich mich plötzlich auf einem Bergkamm, der sich vorher gar nicht
angedeutet hatte, ein schmaler Grat, auf dem ich hier wanderte. Auf beiden
Seiten des Wegs ging es steil hinab und der Bereich unter mir schien von Nebel
gefüllt, obwohl es hier oben vollkommen klar war. Da ich die schmale Stelle so
schnell wie möglich passieren wollte, ging ich zügig weiter und vermied es,
meinen Blick schweifen zu lassen. Ich konzentrierte mich auf den nächsten
Schritt und kam sicher und gut voran. Der Weg änderte nun seine Richtung,
führte jetzt wieder steil hinab, das Tal war schon auszumachen, als ich
plötzlich aus der Bewegung heraus halt machte. Ich stand vor einem
geschlossenen Fenster. Ich trat näher heran: Ein weißes Sprossenfenster,
doppelverglast, die Farbe leicht abgeblättert, mit geschwungenem Griff, alles
schöner, alter Bauart. Ich klopfte an die Scheibe. Nichts regte sich. Ich
wartete eine Weile, klopfte erneut, diesmal etwas nachdrücklicher. Das Fenster
öffnete sich und vor mir stand eine Eule, die etwa meine Größe hatte. Sie sah
mich freundlich an und fragte mich mit ruhiger Stimme: „Wie lautet das
Passierwort?“ „Das Passierwort?“, entgegnete ich, verblüfft und zugleich erleichtert,
endlich wieder etwas zu hören. Die Eule sah mich lange an. Jetzt fiel mir auf,
dass sie eine bunte Uniform mit goldenen Knöpfen trug. "Nun, wenn Sie es
nicht kennen, dann schauen Sie sich bitte in aller Ruhe um und versuchen Sie es
in einer Stunde noch mal. Klopfen Sie dreimal. Wer dreimal klopft, dem wird
aufgetan." Darauf nickte mir die Eule aufmunternd zu und schloss das
Fenster. Das Passierwort, überlegte ich jetzt, musste eine Art Losungswort oder
Code sein. Ich sollte mich umsehen, dachte ich, mich an die Worte der Eule
erinnernd. Der Weg, der Wald, der Himmel. Ich musste genauer sein. Ich suchte
mit meinen Augen die nähere Umgebung ab und drehte mich dabei langsam um meine
eigene Achse. Als ich das Fenster im Rücken hatte, fiel mir am Wegesrand etwas
Blaues auf. Ich ging darauf zu und bemerkte im Herangehen, dass es eine Blume
war, die die Form einer Glocke hatte. Als ich direkt vor ihr stand, begann sich
die Blüte zu bewegen und ich hörte ein Läuten wie von weither. Verwundert
betrachtete ich das sonderbare Gewächs, kniete mich nieder und sah dann direkt
neben ihr etwas Quadratisches, von Moos Überzogenes von der Größe eines
Pflastersteins. Ich befühlte es - und tatsächlich: Es schien ein Stein zu sein.
Vielleicht hatte er einmal als Grenz- oder Meilenstein gedient. Ich griff in meinen Lederbeutel, holte das
Messer hervor und begann, die Moosoberfläche sorgfältig abzuschaben. Da
zeichnetet sich etwas ab. Es war eine Einkerbung und ich spuckte mehrmals auf den
Stein, um ihn zu reinigen und das Eingeritzte entziffern zu können. Es war eine
Zahl. Und ich fuhr mit dem Zeigefinger die Linienführung nach, um wirklich
sicher zu sein. 65. Möglicherweise hatte ich mit dieser Ziffer das Passierwort
gefunden, das ich nun unverzüglich der Eule mitteilen wollte. Ich ging also
erneut auf das Fenster zu, klopfte dreimal und die Eule öffnete sofort, als
hätte sie direkt hinter der Scheibe auf mich gewartet oder meine Suche sogar
mitverfolgt. Wieder sah sie mich freundlich an und fragte mit ruhiger Stimme:
"Wie lautet das Passierwort?" "65", entgegnete ich - noch
etwas verunsichert. "Gut. Ziehen Sie das zusammen." Ich zögerte. Was
nur sollte ich zusammenziehen?
"11", sagte ich, um mein Glück zu versuchen. Die Eule nickte
anerkennend. "Besser. Aber noch enger. Ziehen Sie es weiter
zusammen." Nach der ersten geglückten Operation war dies nun ein Leichtes
und schnell ließ ich die Zahl 2 folgen. Darauf öffnete die Eule das Fenster,
verbeugte sich und bat mich einzutreten. Auf der anderen Seite des Fensters
eröffnete sich direkt vor mir das Tal, das ich schon aus der Ferne gesehen
hatte. Die Eule schob mich sanft voran. "Sie kommen gerade zur rechten
Zeit. Das Vieh will aus der Haut fahren. Dieses Spektakel müssen Sie sich
unbedingt ansehen." Die Eule bemerkte, dass ich nicht gleich verstand und
lachte. "Es ist alles ein wenig sonderbar hier. Beispielsweise ist das Tal
in vier Teile geteilt. So sind hier alle Jahreszeiten vertreten. Aber sehen Sie
sich nur in aller Ruhe um. Sie wissen ja, wo Sie mich finden." Sie klopfte
mir sanft auf den Rücken, spreizte ihre Schwingen und flog geschwind davon. Der
Satz über das Vieh hatte mich neugierig gemacht und so beschloss ich, mit
meinem Rundgang zu beginnen. Den Farben und der Temperatur nach zu urteilen
musste dies der sommerliche Teil des Tals sein. Alles lag in sattem Grün vor
mir, die Grillen zirpten und die Bäume mit ihren schweren, weißen Blüten
verströmten einen mir unbekannten Duft. In einiger Entfernung sah ich eine
gepflegte Rasenfläche, auf der mehrere Kühe standen und in ein Gespräch
vertieft zu sein schienen. Als sie mich näher kommen sahen, riefen sie immer
wieder: "Da ist die Person! Da ist die Person!", drehten sich derweil
immer schneller im Kreis, bis ich ihre klaren Konturen gar nicht mehr deutlich
ausmachen konnte, und plötzlich geschah etwas völlig Unerwartetes: Das Tempo
verlangsamte sich wieder und gleichzeitig öffnete sich das Fell der ersten Kuh,
als zöge jemand an einem Reißverschluss. Dieser Vorgang wiederholte sich nun
auch bei allen anderen Kühen. Und unter ihrem nun abgelegten Fell kam eben
diese bunte Uniform mit den Goldknöpfen zum Vorschein, die auch die Eule trug.
Die Kühe kamen nun in meine Richtung, die Kleinste von ihnen trat schließlich
hervor und sagte: „Sie müssen weiter. Gehen Sie immer geradeaus, bis Sie an die
schmale Schlucht kommen. Auf der anderen Seite beginnt der Herbst. Aber seien
Sie vorsichtig. Von Zeit zu Zeit tritt Feuer oder heißer Dampf aus. Viele schon
sind zu leichtfertig gewesen. Es gibt Wächter,
die Ihnen helfen werden. Handeln Sie nicht zu eigenmächtig." Ich bedankte
mich und brach auf. Mein Weg war von haushohen Fuchsien und Rhododendren
gesäumt und eine ganze Weile begleitete mich ein Hase, der fröhlich vor sich
hin pfiff. Nach mehreren Kilometern blieb der Hase plötzlich stehen. "Für
mich heißt es jetzt Abschied nehmen. Ich muss hier links abbiegen, um die
Silberlichtung noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Gehen Sie einfach hier
weiter. Sie können die Schlucht gar nicht verfehlen." Wir nickten uns zum
Abschied zu und schon war der Hase verschwunden. Jetzt war das Ende des Weges
bereits sichtbar und ich vermutete, mein Ziel bald erreicht zu haben. Beim
Näherkommen erkannte ich drei Gestalten, die leicht vornüber gebeugt dicht
beieinander standen. Als ich fast bei ihnen war, drehten sie sich in meine
Richtung. "Sie kommen genau zur richtigen Zeit. Es dauert noch ein, zwei
Minuten, dann ist alles gar." Ich sah nun, dass sie einen Rost über die
Schlucht gelegt hatten, die mir jetzt eher wie eine Spalte erschien, so schmal
war sie. Auf dem Rost lagen allerlei Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen
hatte. Alles schien ineinander zu fließen und beständig Farbe und Form zu
verändern. Aus der Spalte trat eine ungemeine Hitze aus. Die mittlere Gestalt
ergriff nun das Wort: "Das ist eine Erdspalte.", erklärte sie.
"Alles, was hier hineinfällt, gelangt bis zum Mittelpunkt. Wunderbar, aber
ohne Wiederkehr." "Ohne Wiederkehr, ohne Wiederkehr.", murmelte
es, während das Gegarte gleichmäßig auf vier große Seerosenblätter verteilt
wurde. "Essen Sie. Das wird Ihnen gut tun nach Ihrer langen Wanderung und
Sie haben ja auch noch einiges vor sich, wie wir hörten." Es schmeckte
ganz vorzüglich. Ich wurde gebeten, das große Blatt trocknen zu lassen.
"Sie benötigen es gleich, um die Spalte zu passieren.", erklärte nun
die dritte Gestalt, die sich bisher noch gar nicht geäußert hatte. Nach einer
Weile forderten sie mich auf, das Blatt nun hineinzuwerfen und erst auf ihr
deutliches Signal hin die Spalte zu überschreiten. Ich trat also an die Felskante,
ließ das Blatt behutsam hineinfallen und trat wieder einen Schritt zurück.
Plötzlich spuckte die Spalte eine riesige, heiße Dampfwolke aus. Mit dieser
Reaktion hatte ich nicht gerechnet. "Sie ist heute besonders gierig. Aber
springen Sie. Springen Sie nun hinüber." Die eine Gestalt gab mir einen
leichten Stoß und schon hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Vor mir
stand eine große Holztafel und ich las: "Herbst. Vorübergehend
geschlossen. Bitte gehen Sie zügig dem Winter entgegen. Alle Wege führen zum
See." Ich entschied mich für den mittleren und ging schnell weiter, denn
es wurde auch schon spürbar kühler. Am Ufer des Sees gab es eine kleine
Holzhütte, auf die ich direkt zuging. An der einen Seite befand sich eine Art
Theke und in den Regalen dahinter entdeckte ich weiße und schwarze
Schlittschuhe, alle sorgsam nach Größen geordnet. Nun trat ein kleines Mädchen
aus der Hütte und musterte mich von Kopf bis Fuß. "42", sagte sie.
"Von Ihrem Kopf mal ganz zu schweigen." "Ich verstehe nicht
ganz.", entgegnete ich. Sie griff in ein Regal und legte ein paar
Schlittschuhe auf die Theke. "Ich habe im Laufe der Jahre meinen Blick
geschärft. Probieren Sie diese." Ich zog sie an - und tatsächlich, sie passten einwandfrei.
"Und nun rüber mit Ihnen - aber das Bezahlen nicht vergessen", rief
das Mädchen mir zu. "Was schulde ich Ihnen?", fragte ich zögerlich.
"Und wozu denn nur die Kufen?", entfuhr es mir noch. "Lassen Sie
mir Ihre Schuhe da. Der See ist zugefroren und nur die Kufen bringen Sie dort
hinüber. Schnell noch zum Frühling mit Ihnen und dann zurück zum Fenster, bevor
die Sonne untergeht." Ich legte meine Wanderschuhe auf die Holztheke und
ging zum See hinunter. Mit gleichmäßigen Schwüngen glitt ich voran, der kühle
Wind durchfuhr leicht mein Haar, und problemlos erreichte ich das andere Ufer.
Erleichtert stellte ich fest, dass ich die Kufen vollkommen heruntergefahren
hatte und ich meine Wanderung in den Schuhen nun ungehindert fortsetzen konnte.
Da die Zeit drängte, nahm ich mir nur einen kurzen Augenblick, um die
wunderbaren Kirschblüten zu betrachten. Dann tauchte auch endlich das Fenster
wieder vor mir auf. Ich klopfte, aber niemand öffnete. Dann fiel mir ein, dass
man mich möglicherweise auch auf dieser Seite nach einem Passierwort fragen
würde. Vorsorglich untersuchte ich die nähere Umgebung, um nach Anhaltspunkten
Ausschau zu halten. Zu meiner Erleichterung entdeckte ich zwei runde Steine,
deren Oberfläche ich sogleich mit meinem Messer bearbeitete. Plötzlich hörte
ich ein Knacken direkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah die Eule, die auf
mich hinunterblickte und mein Tun betrachtete. "Hier ist alle Mühe
zwecklos.", sagte sie. "Runde Steine setzen kein Moos an." Und dann verschwand sie.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.