Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Freitag, 1. Mai 2015

Landschaftlicher Schwank



Ein Steinauge saß auf einer Steinbank. Die Nachtsonne schien. Das Steinauge nähte. Stich für Stich, Naht für Naht. Es waren viele Papierstückchen, die es zu einer Pergamentdecke zusammenfügte. Von Zeit zu Zeit blickte das Steinauge auf und betrachtete die Landschaft. Auf dem Pass näherte sich das Kriechtier. --- Viele, viele Stiche weiter: Noch etwas kurzatmig nahm es Platz auf der Bank. Noch so spät unterwegs?, fragte das Steinauge. Ach, der Weg von dort oben hat sich verschoben. Ich brauchte Stunden bis hierher. Verschoben? Ja. Jemand hat sich an den Flächen von Berg und Tal verhoben. So ist alles durcheinander geraten. Über- und untereinander. Völlig verschachtelt. Man hat schon den Laser hindurchgeschickt, um alles zu vermessen. Aber die Kartographie will nicht gelingen, weil ständig alles in Bewegung ist. Ein tektonischer Gau, so sagt man. Gibt es denn Hoffnung?, fragte das Steinauge - sichtlich besorgt. Nun, wir könnten im Schwarzen Saal das Pumpwerk in Betrieb nehmen. Und so die Landschaft einfach auspumpen. So wäre sie leer. Das wäre aber doch schade, entgegnete das Steinauge. Nichts bliebe dann mehr. Maximal ein Hintergrundknistern. Selbst die Nachtsonne würde von der Pumpe verschluckt. Ich möchte Ihnen einen anderen Vorschlag machen: Ich gehe mit meinem Nähzeug in die Landschaft --- und umgarne und vernähe dann alles. Wenn wir dann später am Faden ziehen, löst sich die ganze Landschaft auf. Morgen nähe ich neue Flächen für Berg und Tal. Das Kriechtier nickte. Das ist ein guter Plan. Und winkte freudig der Nachtsonne zu. 

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