1
Ich
gehe direkt auf das Bild zu und rufe die Nummer an. Es klingelt sehr laut,
sodass es alle hören können – die Menschen im Bild und auch die davor. Nach dem
fünften Klingeln wird es unruhig im Bild. Schließlich greift jemand nach seinem
Telefon. Es ist der Mann mit der Brille –
ganz rechts im Bild. Er meldet sich mit seinem Namen. Ich lege auf.
2
Ich
bin in etwas hineingeraten – wie wir alle
hier. Wir leben zu acht in diesem Bild. Mein Name ist JP. Und neulich war da diese Frau, die mich auf der Straße ansprach
und mir von ihrem Projekt erzählte. Sie wollte eine Gruppe in Szene setzen –
wie auf einem Gemälde flämischer Meister. Wir improvisierten, saßen an einer
gedeckten Tafel, aßen Fasan und Trauben, tranken schweren Wein und sprachen.
Ihr Team filmte. Daraus entstand das Bild, eine Animation, in der ich mich noch
immer befinde.
3
Am
Ende des ersten Drehtags ging ich zu Fuß zu meiner Wohnung zurück. Doch das
Haus war nicht mehr da. Auch in den umliegenden Gebäuden fand ich kein
Klingelschild mit meinem Namen. Und die Nachbarn, die ich ansprach, kannten
mich nicht.
4
Ich
habe mir seinen Namen gemerkt, als ich die Nummer wählte und er meinen Anruf
entgegennahm. Er meldete sich mit JP.
Das ist der Mann mit der Brille. Die Suchmaschinen liefern drei relevante
Treffer. Also werde ich mir JP#1, JP#2 und JP#3 näher anschauen.
5
JP#1, der bei fast
jeder Namensnennung betont, dass dies nicht sein richtiger Name sei, sondern Kaspar Hauser Reloaded, wuchs an den Ufern
des Großen Sees auf. Seine Eltern
waren Anhänger einer kleinen Glaubensgemeinschaft und hatten ein
Schweigegelübde abgelegt. Sie verständigten sich ausschließlich per Handzeichen
- Zeichen, die sie JP jedoch nicht
beibrachten.
6
JP#2, geboren in Chicago,
ist ein Sprengstoffentschärfungsexperte. Er wurde bei einem Einsatz in einer
Chemiefabrik schwer verletzt und hat seitdem ein künstliches Bein. Zurzeit
bildet er die Bombenräumkommandos des New
York Police Departments aus und unterrichtet an einer Marineschule. In
seiner Freizeit gärtnert er gern und schaut mit Begeisterung die Serie Fatman.
7
JP#3 ist Professor und
unterrichtet an einem College in Utah. Er forscht vornehmlich zu Hegel und Marx
und hat zwölf Bücher publiziert. Sein besonderes Steckenpferd ist die
Utopieforschung. Er lebt sehr zurückgezogen und nutzt kaum technisches Gerät. Sein
Statement „Ich kann in Ihrem Mac kein
utopisches Potenzial erkennen.“, ist auf dem Campus ein geflügeltes Wort.
8
JP#2 und JP#3 können nicht der Mann sein, der meinen
Anruf entgegennahm. Sie fallen raus – schon aus Altersgründen. Bei JP#1 bin ich mir nicht sicher. Ich werde
morgen wieder in die Galerie gehen, mich vor das Bild stellen und ihn dann
anrufen.
9
Wenn
er den Anruf entgegennimmt, werde ich ihn mit Kaspar Hauser Reloaded ansprechen und einfach schauen, wie er
reagiert.
10
Die
Frau ganz links im Bild hat mich angerufen. Ich habe gar nichts gesagt und
direkt wieder aufgelegt.
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