Es war eine ganz einfache Konstruktion: Ich hatte drei
Baumstämme dicht aneinandergelegt und sie mit einem Seil zusammengebunden.
Meine Brücke ragte über einen Fluss, der zwar nicht sehr breit war, aber seine
Strömung stark. Meine Furcht galt dem
tosenden Wasser dort unten. Ich kann nicht schwimmen.
Über meine Brücke aus Stämmen wollte ich ans
gegenüberliegende Ufer gelangen – so mein Plan. Ich hatte mehrere Tage und
Nächte am Fluss verbracht, war mit sicherem Abstand zum Wasser an der Böschung
auf und ab gegangen und hatte immer wieder hinüber geschaut. Mich interessierte
der Fels jenseits des Flusses. Er war sehr steil und makellos glatt in seinem
Schiefergrau.
Vorsichtig balancierte ich über die Stämme und erreichte das
gegenüberliegende Ufer. Ich ging direkt auf die Felswand zu. Mit meiner Hand
berührte ich ihre Oberfläche. Und tatsächlich: Sie war vollkommen glatt und
sehr kühl - fast so, als hätte man sie
mit einem ganz feinen Nebel besprüht. Neugierig rieb ich mit dem Stoff meines
Ärmels über das Gestein. Das Gewebe blieb jedoch vollkommen trocken. Dann nahm
ich einen scharfkantigen Stein und ritzte einen Hirsch in die Wand – so, wie
ich es in den Höhlen zwei Täler weiter schon häufiger getan hatte. Hier draußen
im Schein der Sonne jedoch konnte ich viel genauer arbeiten als im Halbdunkel
der Höhlen. Ich war im Freien ausdauernder mit Augen und Händen. Der Hirsch
gelang mir. Das Bild war besser als alles, was ich bisher geschaffen hatte.
Dann dämmerte es, und ich ging wieder zurück über meine
Brücke. Und während ich hinüberlief, beschloss ich, schon morgen wieder zum
Fels zu gehen. Ich erwachte früh, lauschte den Vögeln und dem Fluss, aß und
trank etwas – und erreichte gestärkt und freudig den Fels, der heute silbrig glänzte.
Schon stand ich wieder vor der Wand. Ihre Fläche schien mir von grenzenlosem
Ausmaß. Wieder nahm ich den scharfkantigen Stein und ritzte etwas in den
Schiefer. Heute war es eine Speerspitze - zwei aufeinander zulaufende Linien,
die sich schließlich an ihren jeweiligen Enden berührten. Die Speerspitze
selbst zeigte nach oben. Und mein Blick folgte dieser Richtung und wanderte
weit über die Speerspitze hinaus, bis ich eine Kante erblickte und innehielt.
Dort saß etwas – oder hockte vielmehr. Und obwohl die Kante weit über mir lag,
konnte ich es genau erkennen. Es war eine Eule – eigentlich nichts Besonderes
in dieser Umgebung – aber die Eule war rot. Dieses Rot stach, und ich musste
meine Augen schließen, um dann vorsichtig blinzelnd wieder hinzuschauen. Das
Tier war schön. Und ich fand ein Wort, das es beschrieb: Feuervogel. Und obwohl
er sich nicht rührte, hatte mich der rote, leuchtende Vogel womöglich von dort
oben längst erspäht und würde gleich schon wieder davonfliegen.
Ich aber wollte das Bild einfangen, festhalten, es an mich
binden - sehenden Auges. Da löste sich
etwas heraus aus mir, das bei der Betrachtung des Feuervogels in mir gewachsen
war. Und es formte sich ein Laut, der jetzt Gestalt annahm mit einer einzigen
Bewegung meiner Hand: Ich verband die beiden Linien, die bereits meine
Speerspitze bildeten, mit einer Querlinie, sodass sich auf der Felswand ein
Dreieck bildete, das auf zwei Beinen stand. Und ich sprach den Laut aus, den
ich jetzt auch sah: A. Ich hatte ihn in ein Bild gegossen. Ich hatte den
Feuervogel gebändigt. Er ging ein in mein Bild. Er war jetzt da. Und er würde
fortan immer dort sein für mich. Er flog nicht mehr fort. Er war unvergänglich
und zeitlos in diesem A.
Ich sah meine Beute, meinen Gefangenen an. Er stand mir jetzt
gegenüber. Und während ich das Zeichen betrachtete, das ja meines war, stand da
plötzlich ICH. Da stand ich. Plötzlich stand ich da. Ich war da. Ich war
Feuervogel und A zugleich. Ich hatte ihn, es und auch mich geschaffen - mit und
in diesem A.
Am nächsten Tag verlieh ich einem anderen Bild Ausdruck und
nannte es B. Es folgten vierundzwanzig weitere Tage. Zuletzt sah ich die
Spiegelung des Vollmonds im Wasser und ließ das, was ich sah, als Laut heraus
und in ein weiteres Zeichen einfließen: Das Z.
Dann lernte ich zu buchstabieren, zu lesen, eine Geschichte
zu schreiben. Ich lud Fremde zu meiner Felswand ein und las ihnen vor – immer
und immer wieder. Auch sie lernten schnell und begannen, ihre eigenen
Geschichten zu schreiben. Wir verliehen uns Ausdruck. Es zog uns jetzt alle zu
den Zeichen hin - und jeden Tag gingen mehr und mehr von uns
über die Brücke zur Felswand hin. Wir schrieben. Wir schrieben uns ein. Wir
schrieben uns fest. Wir träumten davon, zeitlos zu werden - unendlich in den
Zeichen. Und wir zähmten uns mit den Zeichen.
Früher in den Höhlen hatten wir Erzählungen gelauscht und
Zeichnungen gesehen, die die Natur beschrieben – als harten, rauen,
unwirtlichen Ort. Und auch wir waren so – von dieser Natur. Jetzt schrieben wir
andere Geschichten: Das Moos war weich, der Nieselregen zart – und ebenso das
Fell und Gefieder der Tiere. Wir waren es auch – unsere Haut und unsere Blicke.
Wir erzählten uns unsere Geschichte und schrieben sie auf: Wie wir als Urwesen
der Ursuppe entstiegen, zum Urmenschen wurden, im Urstromtal lebten, wo alles
urig, aber auch urgewaltig war - und wir weiterzogen in den Urwald hinein, wo
wir uns schließlich mit einem Gott überwarfen, den wir uns nach unserem eigenen
Bild erschaffen hatten. Das war die Ursünde.
Wir entwarfen ein Urbild unserer selbst, und der Urkampf um
dieses Bild tobt bis ins Heute hinein: Die Ähnlichkeit mit diesem Bild kämpft
gegen die Abweichung von diesem Bild – gegen seine Nicht-Entsprechung. Das Andere
war geboren. Wir wurden ausschließlich. Wir formten uns nach unserem
Urbild, wollten ihm ähnlich sein. Da war diese Sehnsucht, gleich zu sein. Alles
andere bekämpften wir. So wurden wir.
Und als ein Jemand nahmen wir Kontur an, schliffen uns weiter. Wir schrieben
weiter - tausend und eine Geschichte, um eine Geschichte zu haben. Wir
schrieben weiter, wir fingen neue Wörter ein: Liebe, Traurigkeit, Begehren und
Hass. Der Krieg zog ein in unsere Geschichten. Wir schrieben für etwas.
Wir schrieben gegen etwas. Wir starben für ein Wort – auch wegen eines
Wortes. Jemand sprach einmal: Kein Sterbenswort mehr, ihr Worte. Es war eine
Mahnung, die wir unerhört fanden. So machten wir weiter, füllten Seite um
Seite, Buch für Buch.
Irgendwann waren da zu viele Zeichen. Wir wurden mehrdeutig.
Was war die Wahrheit? Jemand sprach aus, was es war, das uns störte:
Komplexität. Und wir wurden der Zeichen, die all das beschrieben, überdrüssig.
So schnitten wir sie zurück, wir stutzten sie – wir wollten zurück zum
ersehnten Ursprung, der auch eine Geschichte war. Da war diese Sehnsucht nach
einem einfachen Grund. Mit den Zeichen waren wir Vieles geworden – auch
menschlich. Diese Menschwerdung jedoch war uns zu viel geworden. Wir waren uns
selbst zu viel. Zu viel Mensch, der sich in seinem Menschsein nicht mehr
aushalten konnte. Die Flut der Zeichen war zu einer Flut der Möglichkeiten
geworden. Wer also bin ich? Nichts. Ich will nichts mehr sein. Ich will
aufgehen und mich vergessen. Ich will untergehen, wieder einsilbig sein,
einfältig. Eins. Eins mit der Natur. Ich will rau sein, hart. In mir soll es
unwirtlich sein. In mir soll ein Krieg
toben. Die Zeichen sollen sich abschlachten in mir. Endlich ist Ruh´.
Die Brücke haben wir zerstört. Wir haben die Baumstämme mit
einer Axt zerschlagen und ins Wasser geworfen. Sie sind nicht untergegangen.
Die Strömung hat sie fortgetragen. Es ist still geworden. Die Zeichen an der
Wand haben wir ausgelöscht. Es gibt nichts mehr zu lesen. Wir haben unsere
Geschichten getilgt – auch unsere Geschichte. Dort, wo einstmals die Zeichen standen,
sind jetzt Leerstellen. Aber diese Leere ist womöglich ein Platzhalter für das
nächste menschliche Zeichen.
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