Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 16. Juli 2020

Die Zeichenbrücke


Es war eine ganz einfache Konstruktion: Ich hatte drei Baumstämme dicht aneinandergelegt und sie mit einem Seil zusammengebunden. Meine Brücke ragte über einen Fluss, der zwar nicht sehr breit war, aber seine Strömung  stark. Meine Furcht galt dem tosenden Wasser dort unten. Ich kann nicht schwimmen.
Über meine Brücke aus Stämmen wollte ich ans gegenüberliegende Ufer gelangen – so mein Plan. Ich hatte mehrere Tage und Nächte am Fluss verbracht, war mit sicherem Abstand zum Wasser an der Böschung auf und ab gegangen und hatte immer wieder hinüber geschaut. Mich interessierte der Fels jenseits des Flusses. Er war sehr steil und makellos glatt in seinem Schiefergrau.
Vorsichtig balancierte ich über die Stämme und erreichte das gegenüberliegende Ufer. Ich ging direkt auf die Felswand zu. Mit meiner Hand berührte ich ihre Oberfläche. Und tatsächlich: Sie war vollkommen glatt und sehr kühl -  fast so, als hätte man sie mit einem ganz feinen Nebel besprüht. Neugierig rieb ich mit dem Stoff meines Ärmels über das Gestein. Das Gewebe blieb jedoch vollkommen trocken. Dann nahm ich einen scharfkantigen Stein und ritzte einen Hirsch in die Wand – so, wie ich es in den Höhlen zwei Täler weiter schon häufiger getan hatte. Hier draußen im Schein der Sonne jedoch konnte ich viel genauer arbeiten als im Halbdunkel der Höhlen. Ich war im Freien ausdauernder mit Augen und Händen. Der Hirsch gelang mir. Das Bild war besser als alles, was ich bisher geschaffen hatte.
Dann dämmerte es, und ich ging wieder zurück über meine Brücke. Und während ich hinüberlief, beschloss ich, schon morgen wieder zum Fels zu gehen. Ich erwachte früh, lauschte den Vögeln und dem Fluss, aß und trank etwas – und erreichte gestärkt und freudig den Fels, der heute silbrig glänzte. Schon stand ich wieder vor der Wand. Ihre Fläche schien mir von grenzenlosem Ausmaß. Wieder nahm ich den scharfkantigen Stein und ritzte etwas in den Schiefer. Heute war es eine Speerspitze - zwei aufeinander zulaufende Linien, die sich schließlich an ihren jeweiligen Enden berührten. Die Speerspitze selbst zeigte nach oben. Und mein Blick folgte dieser Richtung und wanderte weit über die Speerspitze hinaus, bis ich eine Kante erblickte und innehielt. Dort saß etwas – oder hockte vielmehr. Und obwohl die Kante weit über mir lag, konnte ich es genau erkennen. Es war eine Eule – eigentlich nichts Besonderes in dieser Umgebung – aber die Eule war rot. Dieses Rot stach, und ich musste meine Augen schließen, um dann vorsichtig blinzelnd wieder hinzuschauen. Das Tier war schön. Und ich fand ein Wort, das es beschrieb: Feuervogel. Und obwohl er sich nicht rührte, hatte mich der rote, leuchtende Vogel womöglich von dort oben längst erspäht und würde gleich schon wieder davonfliegen.
Ich aber wollte das Bild einfangen, festhalten, es an mich binden  - sehenden Auges. Da löste sich etwas heraus aus mir, das bei der Betrachtung des Feuervogels in mir gewachsen war. Und es formte sich ein Laut, der jetzt Gestalt annahm mit einer einzigen Bewegung meiner Hand: Ich verband die beiden Linien, die bereits meine Speerspitze bildeten, mit einer Querlinie, sodass sich auf der Felswand ein Dreieck bildete, das auf zwei Beinen stand. Und ich sprach den Laut aus, den ich jetzt auch sah: A. Ich hatte ihn in ein Bild gegossen. Ich hatte den Feuervogel gebändigt. Er ging ein in mein Bild. Er war jetzt da. Und er würde fortan immer dort sein für mich. Er flog nicht mehr fort. Er war unvergänglich und zeitlos in diesem A.
Ich sah meine Beute, meinen Gefangenen an. Er stand mir jetzt gegenüber. Und während ich das Zeichen betrachtete, das ja meines war, stand da plötzlich ICH. Da stand ich. Plötzlich stand ich da. Ich war da. Ich war Feuervogel und A zugleich. Ich hatte ihn, es und auch mich geschaffen - mit und in diesem A.
Am nächsten Tag verlieh ich einem anderen Bild Ausdruck und nannte es B. Es folgten vierundzwanzig weitere Tage. Zuletzt sah ich die Spiegelung des Vollmonds im Wasser und ließ das, was ich sah, als Laut heraus und in ein weiteres Zeichen einfließen: Das Z.
Dann lernte ich zu buchstabieren, zu lesen, eine Geschichte zu schreiben. Ich lud Fremde zu meiner Felswand ein und las ihnen vor – immer und immer wieder. Auch sie lernten schnell und begannen, ihre eigenen Geschichten zu schreiben. Wir verliehen uns Ausdruck. Es zog uns jetzt alle zu den  Zeichen hin  - und jeden Tag gingen mehr und mehr von uns über die Brücke zur Felswand hin. Wir schrieben. Wir schrieben uns ein. Wir schrieben uns fest. Wir träumten davon, zeitlos zu werden - unendlich in den Zeichen. Und wir zähmten uns mit den Zeichen.
Früher in den Höhlen hatten wir Erzählungen gelauscht und Zeichnungen gesehen, die die Natur beschrieben – als harten, rauen, unwirtlichen Ort. Und auch wir waren so – von dieser Natur. Jetzt schrieben wir andere Geschichten: Das Moos war weich, der Nieselregen zart – und ebenso das Fell und Gefieder der Tiere. Wir waren es auch – unsere Haut und unsere Blicke. Wir erzählten uns unsere Geschichte und schrieben sie auf: Wie wir als Urwesen der Ursuppe entstiegen, zum Urmenschen wurden, im Urstromtal lebten, wo alles urig, aber auch urgewaltig war - und wir weiterzogen in den Urwald hinein, wo wir uns schließlich mit einem Gott überwarfen, den wir uns nach unserem eigenen Bild erschaffen hatten. Das war die Ursünde.
Wir entwarfen ein Urbild unserer selbst, und der Urkampf um dieses Bild tobt bis ins Heute hinein: Die Ähnlichkeit mit diesem Bild kämpft gegen die Abweichung von diesem Bild – gegen seine Nicht-Entsprechung. Das Andere war geboren. Wir wurden ausschließlich. Wir formten uns nach unserem Urbild, wollten ihm ähnlich sein. Da war diese Sehnsucht, gleich zu sein. Alles andere bekämpften  wir. So wurden wir. Und als ein Jemand nahmen wir Kontur an, schliffen uns weiter. Wir schrieben weiter - tausend und eine Geschichte, um eine Geschichte zu haben. Wir schrieben weiter, wir fingen neue Wörter ein: Liebe, Traurigkeit, Begehren und Hass. Der Krieg zog ein in unsere Geschichten. Wir schrieben für etwas. Wir schrieben gegen etwas. Wir starben für ein Wort – auch wegen eines Wortes. Jemand sprach einmal: Kein Sterbenswort mehr, ihr Worte. Es war eine Mahnung, die wir unerhört fanden. So machten wir weiter, füllten Seite um Seite, Buch für Buch.
Irgendwann waren da zu viele Zeichen. Wir wurden mehrdeutig. Was war die Wahrheit? Jemand sprach aus, was es war, das uns störte: Komplexität. Und wir wurden der Zeichen, die all das beschrieben, überdrüssig. So schnitten wir sie zurück, wir stutzten sie – wir wollten zurück zum ersehnten Ursprung, der auch eine Geschichte war. Da war diese Sehnsucht nach einem einfachen Grund. Mit den Zeichen waren wir Vieles geworden – auch menschlich. Diese Menschwerdung jedoch war uns zu viel geworden. Wir waren uns selbst zu viel. Zu viel Mensch, der sich in seinem Menschsein nicht mehr aushalten konnte. Die Flut der Zeichen war zu einer Flut der Möglichkeiten geworden. Wer also bin ich? Nichts. Ich will nichts mehr sein. Ich will aufgehen und mich vergessen. Ich will untergehen, wieder einsilbig sein, einfältig. Eins. Eins mit der Natur. Ich will rau sein, hart. In mir soll es unwirtlich sein. In mir soll ein  Krieg toben. Die Zeichen sollen sich abschlachten in mir. Endlich ist Ruh´.
Die Brücke haben wir zerstört. Wir haben die Baumstämme mit einer Axt zerschlagen und ins Wasser geworfen. Sie sind nicht untergegangen. Die Strömung hat sie fortgetragen. Es ist still geworden. Die Zeichen an der Wand haben wir ausgelöscht. Es gibt nichts mehr zu lesen. Wir haben unsere Geschichten getilgt – auch unsere Geschichte. Dort, wo einstmals die Zeichen standen, sind jetzt Leerstellen. Aber diese Leere ist womöglich ein Platzhalter für das nächste menschliche Zeichen.

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