Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Sonntag, 3. September 2017

ich-bin-das-wetter.com



Ich hatte die Kamera mit einem Glas Wasser hinuntergespült. Während meiner Fahrt zur Wettercompany brachte ein künstlicher Strömungskanal in meinem Körper die Kamera sicher an ihren Bestimmungsort. Sie dockte von innen in meiner rechten Handfläche an. Die Kamera hatte die gallertartige Konsistenz einer Qualle. Wir nannten unsere Erfindung deshalb auch Jellyfish. Die ganze Apparatur war so klein und unauffällig, dass sie bei allen Sicherheitskontrollen bisher unentdeckt blieb. Die Auflagen, das Startup ich-bin-das-wetter.com besichtigen zu können, waren sehr hoch. Ich musste einen dreistufigen Sicherheits-Check durchlaufen. Und eine sechsstellige Summe hinterlegen. Die ich zurückbekam, wenn auch sechs Monate nach meinem Besuch keine Informationen über das Unternehmen durchgesickert waren, die nachweislich auf mich zurückgingen. Es war streng untersagt, während der Besichtigung Notizen oder Aufnahmen jeglicher Art zu machen. Deshalb kam Jellyfish zum Einsatz. Die Veranstaltung, zu der ich fuhr, war ein Event für potentielle Aktionäre. Denn das Startup plante seinen Börsengang. Die Firmengebäude lagen am Stadtrand. In Alleinlage. Im Umkreis nur Felder. Als ich vom Parkplatz zum Haupteingang ging, fiel mir auf, wie sandig es hier war. Und ich spürte eine trockene Wärme, die sich so ganz anders anfühlte, als die herbstliche Kühle im Innern der Stadt. Im Eingangsbereich stand ein Bodyscanner. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das Sicherheitspersonal begrüßte mich freundlich. Ich betrat den Scanner. Jellyfish blieb unentdeckt. Nachdem ich alle persönlichen Gegenstände abgegeben und die Formalitäten erledigt hatte, wurde ich in ein Atrium geleitet, wo auf schwarzen Ledersesseln bereits mehrere Personen Platz genommen hatten. Das war also die Gruppe. Ich setzte mich. Gerade trafen noch zwei weitere Besucher ein. Dann wurde die Tür zum Eingangsbereich geschlossen. Und während ich vorgab, in einer Broschüre zu blättern, nahm ich die Runde in Augenschein. Wir waren zu zwölft. Sieben Männer und fünf Frauen. Zwischen Mitte vierzig und Anfang sechzig. Alle machten einen gepflegten Eindruck und waren gut gekleidet. In einer der Sitzecken unterhielt man sich schon angeregt. Dann wurden wir ins Auditorium gebeten. Der Gang dorthin war von zahlreichen Plasmabildschirmen gesäumt. Im Vorbeigehen sah ich Schneestürme. Gewitter. Sommerregen. Strahlenden Sonnenschein. Und auch Nebelbänke. Dann betraten wir den Vortragssaal. Und da standen sie, die beiden Gründer: Zwei schöne Menschen. Makellos. Mit ganz weißen Zähnen. Dr. Anne Lehmbruck. Und Dr. Kai Tauber. Studium der Biologie. Astrophysik. Und Meteorologie. Mit Stationen in Cambridge und Stanford. Was die Imagebroschüre nicht aufführte, waren längere Arbeitsaufenthalte in China und einigen afrikanischen Ländern. Die Schwerpunkte der Firmen: Biotechnologie und Nanotechnologie. Meine Quellen waren zuverlässig. Ich sah mich um: Schon nach wenigen Sätzen hatte Lehmbruck die Gruppe. Hier in diesem Gebäude – so die Botschaft – fand gerade eine bahnbrechende Umwälzung statt. Vergleichbar mit der bemannten Raumfahrt oder der Erfindung des Computers. Und wir konnten Teil davon sein. Wir, ich selbst, war nur wenige Klicks davon entfernt, das Wetter mitzubestimmen. Es zu machen. Vielmehr: Das Wetter zu sein. Wir hier, die Menschen in diesem Raum, waren das Wetter. Und würden es fortan sein. Nun bat uns Tauber, uns mit den Touchscreens vertraut zu machen, die sich in den Armlehnen unserer Stühle befanden. Wir konnten in drei Kategorien unser Wunschwetter für die nächsten zwei Stunden wählen: Bewölkungsgrad, Temperatur, Windgeschwindigkeit. Dann wurde aus unseren Eingaben ein Mittelwert berechnet, der sogleich vorne auf der Leinwand erschien: Bewölkungsgrad 5%, Temperatur 24 Grad, Windgeschwindigkeit 8 km/h. Das waren ungewöhnliche Werte für einen Tag Ende Oktober. Tauber fuhr fort: „Wir haben jetzt kurz vor zwei. Und wenn wir in zwei Minuten in die Innenstadt schalten, dann wird sich das Wetter dort geändert haben. Dann werden unsere Familien und Freunde dort sonnige Wetterverhältnisse haben. Und das bleibt dann erstmal konstant. Für eine Stunde und zweiundvierzig Minuten.“ Lehmbruck übernahm. „Danke Kai. Ja und nach diesen knapp eindreiviertel Stunden wird sich der Himmel wieder bewölken. Aus praktischen Gründen. Das hat in erster Linie mit dem Feierabendverkehr zu tun. Von unseren Testusern wird immer wieder der Wunsch geäußert, von der Sonne, die dann ja schon recht tief steht um diese Jahreszeit, beim Autofahren nicht geblendet zu werden. Das verringert in der Tat die Unfallgefahr. Und da ist eine abgeblendete Sonne erwünscht. Und auch sinnvoll. Das ist der Mehrheitswunsch unserer Testcommunity. Und dann machen wir das auch so.“ Und schon erreichten uns die Bilder aus der Innenstadt. Die Sonne schien. Die Menschen zogen ihre Mäntel aus. Und setzten sich auf Parkbänke. Einige Cafés stellten sogar Stühle heraus. Lehmbruck ging vorne langsam auf und ab. „Im Moment durchlaufen wir mit unseren Testusern die Beta-Phase. Das ist für die User und uns eine ganz wichtige Experimentierphase. Um einfach mal zu gucken, was geht. Was möglich ist. Welche Features habe ich? Und wie lässt sich das alles steuern und bedienen? Das hat ja etwas sehr Spielerisches. Im Moment überwiegt bei dem nasskalten Herbstwetter verständlicherweise der Wunsch nach wärmeren Temperaturen. Die gewählte Durchschnittstemperatur liegt zurzeit bei 26 Grad. Und das bei wolkenfreiem Himmel. Es wird schwierig sein, dies jetzt dauerhaft so beizubehalten. Oder durchsetzen. Es kamen auch schon erste Usereinwände, was den Regen anbetrifft.“ Jetzt war es wieder Tauber, der zu uns sprach: „Wir nehmen diese Punkte natürlich sehr ernst. Was wären wir ohne die Feedbacks unserer Community. Und in der Tat müssen wir kritisch schauen, wie sich unser Wetter auf die heimische Landwirtschaft auswirkt. Auf die Erträge. Und so weiter. Und hier zeigt sich, um was es uns geht. Um wie viel es uns geht. Hier offenbart sich, was ich-bin-das-wetter.com im Kern auszeichnet: Wir machen Ernst mit Basisdemokratie und bürgerschaftlichem Engagement. Uns geht es um echte Partizipation. Um Achtsamkeit. Und um Teilhabe. Wir stehen für vorausschauendes Denken und Handeln. Jeder, der sich verantwortlich fühlt, hat durch uns die Möglichkeit, für sich zu reflektieren: Wie möchte ich mich strategisch positionieren? In Bezug auf das Wetter. Wir unterstützen mit unserem Knowhow, damit Sie alle Faktoren und Variablen kennen, um Ihre Entscheidung fundiert zu treffen. Das schult natürlich ungemein. Und wird auch unser bisheriges Denken in eine ganz neue Richtung bringen. Wir stärken unser Verantwortungsbewusstsein. Und fühlen uns verantwortlich für komplexe Phänomene, weil wir endlich verstehen, wie fein die Dinge ineinandergreifen. Und dass dabei viele Faktoren zu beachten sind. Da können wir alle von profitieren. Und gemeinsam lernen.“ Es wurde unruhig im Raum. Einige Teilnehmer rutschten auf ihren Stühlen hin und her. Der Herr mit dem feingeschnittenen Gesicht vor mir murmelte etwas von Manipulation. Schon wurde es wieder heller im Raum. Und man bat uns zur nächsten Station: Der Wetterzentrifuge. Die Zentrifuge befand sich in einem Kühlturm. Hier also wurde das Wetter gemacht. Und obwohl wir durch Panzerglas vom Innern des Turms isoliert waren, bat man uns, weiße Schutzanzüge zu tragen.  Beim Umziehen fiel mir auf, dass wir nur noch zu elft waren. Der murmelnde Herr fehlte. Ein Assistent hatte vor der Panzerglasscheibe einen Tisch aufgebaut. Tauber nahm nun eine der zahlreichen Kapseln in die Hand, die nach Farbe und Größe geordnet auf dem Tisch lagen: „Was Sie hier sehen, sind verschiedene Wetterphänomene. Oder Zutaten. In Tablettenform. Und eins davon greife ich jetzt mal raus. Weil es für unsere Arbeit so außerordentlich wichtig ist. Das ist diese Tablette hier. Diese etwas größere Kapsel. Das ist Lithium. Sie kennen Lithium von Batterien. Einige von Ihnen werden es auch als Medikament kennen. Das eingesetzt wird zur Stabilisierung. Beispielsweise bei Menschen mit einer bipolaren Störung – Menschen also, die manisch-depressiv sind. Hier geht es um die Stabilisierung der Stimmung. Um das Verhindern von Stimmungsausschlägen in ein Extrem. Es wirkt ausgleichend auf die Neurotransmitter. Alles im Lot. Und unsere Idee war dann zu sagen: OK, wenn sich das Lithium so stabilisierend auf die menschliche Psyche auswirkt, dann müsste das doch auch in Bezug auf das Wetter funktionieren: Einfach eine stabile Wetterlage zu erzeugen. Und das hat sich auch bewahrheitet. Denn es funktioniert.“ Wir blickten jetzt in die Zentrifuge, wo elektronische Greifhände mehrere Kapseln auf eine gläserne Arbeitsplatte legten und dann zermahlten. Dann setzte die Rotation ein bis schließlich eine dichte Staubwolke entstand, die sogleich über Lüftungsschächte nach außen entwich. Die Schächte brummten. Ich sah Lehmbruck an, die mit geschlossenen Augen dastand, als würde sie genussvoll einem Musikstück lauschen. Schließlich öffnete sie ihre Augen und sah in die Runde. „So klingt Wetter“, sagte sie versonnen. „Oh, ich liebe es.“ Und sie lachte dabei. Draußen ging ein Graupelschauer nieder. Jetzt schaltete sich Tauber wieder ein. Auch er lachte. „Sehen Sie. Auch das können wir: Voodoo. Ich schicke dir Graupel. Eis. Und Sturm.“ Wir verließen die Wetterzentrifuge und wurden in einen anderen Gebäudeteil geführt. In den Gängen waren viele Sicherheitsleute unterwegs. Dann passierten wir eine Schleuse und standen schließlich vor einer deckenhohen Tresortür. Lehmbruck bat uns, einen Halbkreis zu bilden. „Hinter dieser Tür befindet sich der Heilige Gral. Er ist das Kapital und Herzstück unseres Unternehmens. Im Tresorraum gibt es eine Vielzahl an Schubladen. Sie sind nochmals mit einer Spezialtechnik gesichert. Dieser Raum ist feuerfest. Wasserdicht. Erdbebensicher. Und immun gegen nukleare Angriffe. In den Schubladen befinden sich die Zugangscodes zu den Wetterphänomenen anderer Staaten. Momentan sind wir im Besitz von 87 Codes. Das heißt, wir haben Zugriff auf  87 Länder. Ganz exklusiv. Nur wir verfügen über die Technik, diese Codes zu entschlüsseln. Und theoretisch das Wetter in einem bestimmten Land zu kreieren. Denken Sie weiter. Stellen Sie sich vor, eine terroristische Organisation käme in Besitz der Zugangscodes. Feindliche Systeme könnten das Wetter eines Staats manipulieren. Wochenlang nur Starkregen. Wochenlang gleißender Sonnenschein. Bei 45 Grad. Das kann Überflutungen hervorrufen. Das kann Dürren hervorrufen. Hungerkatastrophen. Sie setzen mit Ihrer Wettermanipulation Fluchtbewegungen in Gang. Und bedienen damit in anderen Staaten den Angst- und Abwehrreflex des 21. Jahrhunderts. Mit den Wettercodes haben Sie die Macht, ein Land zu zerstören. Von innen. Und außen. Sie machen es kaputt. In nur wenigen Wochen. Und da liegt unser ganz besonderes Augenmerk. Das ist uns eine Herzensangelegenheit: Die Codes zu schützen. Wie den Heiligen Gral. Die Kriege von morgen werden Wetterkriege sein. Es liegt in unserer Hand, uns davor zu bewahren. Deshalb glauben wir an unsere Mission, das Wetter zu revolutionieren.“ Unser Rundgang führte uns jetzt zurück in das Auditorium. Wir nahmen wieder Platz. Und uns wurden Säfte aus regionalem Anbau gereicht. Tauber wollte uns zum Abschluss das Kundenmodell von ich-bin-das-wetter.com vorstellen. „Als Basic-Client geben Sie bis 22.00 Uhr Ihr Wettervotum für den Folgetag ab. Wir stellen Ihnen dafür eine App zur Verfügung. Aus der Gesamtheit der Stimmen wird das Wetter berechnet. Und in unserer Zentrifuge entsprechend aufbereitet. Dann erfolgt die Freisetzung, der Sie ja vorhin  beiwohnen durften. Als Advanced-Client zählt Ihr Votum grundsätzlich doppelt. Sie nehmen so also in besonderer Weise Einfluss auf unser Wettergeschehen. Und dem Premium-Client sind hinsichtlich seiner Phantasie und Kreativität keinerlei Grenzen gesetzt. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, Ihnen Wetterfeatures anzubieten, mit denen Sie Wetterphänomene kreieren können, die es so bisher noch gar nicht gibt. Das macht den Premium-Client-Status so spannend. Werden Sie zum Macher farbiger Niederschläge. Erschaffen Sie Hagelkörner mit kleinen Gimmicks darin. Oder lassen Sie es im Sommer auf Ihrer Gartenparty zur Abkühlung einfach mal schneien. Spielen Sie! Bringen Sie Neues in die Welt!“ Dr. Lehmbruck schaute uns euphorisch an.  „Und unser Gold-Client wird in nicht allzu ferner Zukunft sein eigenes Mikroklima erschaffen. In einem von ihm definierten Bereich. Das kann das eigene Grundstück sein. Der Sportplatz, auf dem gerade ein Fußballturnier läuft. Der Lieblingsstrand in südlichen Gefilden. Oder das Dorf, in dem Sie wohnen. Die Kosten für Sie als User berechnen sich pro Quadratmeter. Das Wetter, meine Damen und Herren, ist einfach kein Zufall mehr.“ Alle klatschten. Tauber bat uns, unser Votum abzugeben. Für das Wetter. To go. Wir hatten abgestimmt. 22 Grad. Sonnig. Schwacher Wind aus Südwest. Ich verließ das Gebäude. Alles stimmte. Hier draußen. Das perfekte Wetter, um meinen Bericht zu schreiben.

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