Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 1. April 2015

Ventriculus Cordis



Meine Pupillen haben heute eine leichte Herzform. Sie ziehen sich in  regelmäßiger Abfolge zusammen und dehnen sich dann wieder aus. Ein leichtes Pochen beginnt. Ich sehe genauer hin, mein Blick wie von Fäden gezogen. Dann bleibt er stehen. Meine Augen schmerzen ein wenig. Ich schließe sie wie bei Müdigkeit. Ich höre eine Drehorgel, Geschrei von weither, schlurfende Schritte auf staubigem Boden, rieche etwas Gebranntes, Mandeln vielleicht -  ja, es könnte ein Jahrmarkt sein. Ganz in der Nähe wird etwas geordert, bezahlt - und dann dieses Geräusch. Das kenne ich doch. Ich brauche einen Moment, um es einzuordnen. - Natürlich. Jetzt bin ich mir sicher: Ein Gewehr, das durchgeladen wird. Ich öffne die Augen: Ein Lauf. Ich blicke nach rechts: Kunstblumen in weißen Röhrchen, der Reihe nach aufgesteckt. Links eine quadratische Metallplatte, darauf Sternscheiben - zu einem Muster angeordnet. Unten drei rote Herzen auf weißem Grund. Eine Herzkarte also. Und immer noch dieser Lauf – ich darf jetzt nicht blinzeln. Meine Augen sind schon ganz trocken. Wie das brennt! Bloß nicht zwinkern – sonst verrate ich mich. Aber schon tritt aus dem Lauf eine Kugel aus und kommt auf mich zu. Von einem Meisterschuss getroffen, zersplittert alles, bricht auf und bietet sich dar. Eine Öffnung. Ich gehe auf sie zu. Noch ein wenig zögerlich betrete ich den Raum, um ihn dann in Augenschein zu nehmen. Er ist an der Decke, auf dem Boden und an den Wänden mit unzähligen Spiegeln versehen. Dann sehe ich gerade noch, wie etwas (es könnte eine Katze sein) die Herzkarte durch die gegenüberliegende Tür aus dem Raum heraus trägt. Vielleicht hat man das Bild zu spät gewechselt. Ich wende mich wieder den Spiegeln zu, schreite die erste Wand ab, um mich darin zu betrachten. Von Schritt zu Schritt wandelt sich meine Gestalt: Mal bin ich lang gezogen und sehr dünn, mal flächig, dann wieder klein und dick. Die nächste Wand besteht aus vier gleichgroßen Spiegeln. Ich stelle mich vor den ersten Spiegel und erblicke ein Kind. Das Kind hebt die Hand und deutet auf die gegenüberliegende Wand. Ich drehe mich um und sehe zwei  Kröten (eine blau, eine braun), die sich langsam in Richtung Decke bewegen. Ich gehe zum nächsten Spiegel: Ein alter Mann. Er ist ganz starr. Aber dann bemerke ich, dass seine Lippen sich bewegen. Immer derselbe Rhythmus. Ich versuche abzulesen, welches Wort sie formen.  Es lautet Souffleur. Der dritte Spiegel: Ich stehe einer Frau gegenüber. Sie ist nackt und hält ihre Augen geschlossen. Die Haut ist so weiß wie Schnee. Ihre linke Brust wird durchlässiger, wie Gaze, ein leichter Stoff, durch den jetzt ein roter Schimmer dringt. Das Rot wird satter. Schließlich roter als Rot und dann sehe ich es: Ihr Herz. Ein arbeitender Muskel, der nun das Rot in den Raum pumpt. Ich blicke auf den Boden: Ich stehe schon bis zu den Knöcheln in diesem Rot. Und es wird höher steigen. Ich sehe den Pegel neben dem Spiegel und ich weiß nun, dass nur mein Weiterziehen das Rot aufhalten kann. Und tatsächlich kommt kein Rot mehr, es schrumpft schon zu einer kleinen Lache zusammen, die schließlich völlig verschwindet. Vor dem vierten Spiegel weiche ich zurück. Ich stehe mir selbst gegenüber. Das Licht wird heller. Ich trete näher an den Spiegel heran und blicke in meine Augen. In den Pupillen sehe ich mein Gesicht und einen Teil des Raums. Doch irgendetwas stimmt nicht. Noch einmal betasten sich die  Augenpaare. Und dann bemerke ich, dass es ja blaue Augen sind, in die ich hineinblicke. Meine sind braun. Da bin ich mir sicher. Amtliche Dokumente bestätigen das. Ich habe keine Erklärung dafür, überlege jedoch, ob es einen Unterschied machen könnte, mit blauen Augen zu sehen. Ich beschließe, diesen Gedankengang zu beenden und betrachte stattdessen die gegenüberliegende Holztür, von der ich jetzt weiß, dass sie sich schon bald öffnen wird. Ich werde den Spiegelraum durch sie verlassen. Und tatsächlich öffnet sich nun das Portal und ich gehe hindurch. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das neue Licht zu gewöhnen. Doch meine Ohren arbeiten derweil umso intensiver, und ich vernehme ein regelmäßiges Pochen und Schlagen. Jetzt stellen sich auch die ersten optischen Eindrücke ein: Ich befinde mich in einer Grotte von weiten Ausmaßen und beachtlicher Höhe. Vielleicht ist es eine Tropfsteinhöhle. Von den Formen und Proportionen her könnte es eine Kathedrale sein. Eine in rötlichen Stein geschlagene Kathedrale. Ich muss mich weit unter der Erdoberfläche befinden. Kein natürlicher Lichteinfall. Temperatur: Etwa 5 Grad. Geruch: Leicht mineralisch. Ich möchte wissen, woher dieses Pochen kommt und trete näher an eine der Wände heran: Sie besteht aus unzähligen Herzen - kleine, pulsierende Beutel. Es müssen Tausende sein! Ich drehe mich um. Geht das weiter? Und tatsächlich setzt sich der Herzbewuchs auch hier fort, immer weiter fort - auch an der dritten und vierten Wand. Alles ist voll, übervoll. Ich stelle mich in die Mitte des Raums und schließe die Augen: Unzählige Herzen, die synchron schlagen, zu einem gemeinsamen Rhythmus vereint. Und meines schlägt mit. Es hat sich eingestimmt. Ich werde ruhiger, entspanne mich und erinnere mich wieder an Kammern und Vorhöfe dieses muskulösen Hohlorgans, an Klappen - ja, da sind sie wieder, die einstmals gelernten Begriffe: Atrium und Ventriculus, Systole, Diastole und Aorta. Je nach körperlicher Anforderung schlägt das Herz zwischen sechzig- und einhundertachtzig Mal. Doch was versorgt dieses gigantische Pumpwerk, in dem ich mich hier befinde? Was hält es am Leben? Plötzlich kommt von links etwas auf mich zu: Klein zwar, aber sehr schnell und zielgerichtet. Es streift mich und in diesem Moment erkenne ich, dass es eine Katze ist. Sie verschwindet zwischen zwei Säulen. Ich beschließe, ihr zu folgen und betrete einen kleinen Raum, der hell erleuchtet ist. Er ist kahl und schmucklos. An der rechten Wand befindet sich ein Holzregal. Daneben ein schmaler Spiegel. Das Regal besteht aus vier Böden, die mit kleinen Schildchen versehen sind. Ganz oben lese ich Standardausrüstung, und auf diesem Regalboden befinden sich ein Rucksack und ein sorgfältig gefalteter Mantel. Ich nehme den Rucksack aus dem Regal und öffne ihn. Er ist leer. An einem der Riemen ist ein Anhänger befestigt. Ich drehe ihn um, lasse den Rucksack fallen und suche Halt: Es ist mein Name, der auf dem Anhänger steht. Ich nehme den Mantel. Er ist grün und aus Filz gefertigt. Ich ziehe ihn an und er passt einwandfrei.  Auf den anderen Regalböden liegen verschiedene Gegenstände. Doch was mache ich damit? Wenn es doch nur eine Beschreibung gäbe – und tatsächlich: Im zweiten Regal finde ich eine Liste mit Abbildungen und  jeweiliger Funktion. Ich sehe mir alles genau an und entscheide ich mich für ein Paar Stahlarmbänder (entlarvt Trugbilder), einen Zylinder (fährt rotierende Klingen aus) und ein Zepter (maximale Macht für 30 Wimpernschläge). Ich setzte den Zylinder auf, lege die Armbänder an und verstaue das Zepter in meiner Manteltasche. Jetzt fühle ich mich gut gerüstet. Noch einen Blick in den Spiegel: Ich stehe ganz aufrecht, meine Wirbelsäule ist gespannt wie ein Bogen. Meine Augen funkeln: Eins blau. Eins braun. Ich bin kampfbereit. Ja, ich will kämpfen. Ich verlasse den Raum und gehe zu den Säulen zurück. Und dann höre ich es wieder: Dieses gleichmäßige Schlagen und Pochen. Und es pocht und schlägt auch schon in mir. In meinem Kopf, in meinen Adern, bis in die Eingeweide hinein. Das muss aufhören! Doch das Klopfen wird stärker und stärker. Gleich zerspringt mir mein Kopf! Er wird einfach zerbersten. Ich muss das hier abschalten! Dieses gigantische Pumpwerk - es muss augenblicklich still sein! Ich reiße mir den Zylinder vom Kopf und spüre die Rotation der Klingen. Die erste Wand. Platzende Herzen! Schmatzende Explosionen! Ich verfolge den Weg des Zylinders, der sich zur zweiten Wand durchgearbeitet hat und sein Werk dort fortsetzt. Dann bemerke ich etwas Feuchtes an meinen Füßen, blicke hinunter und sehe, dass ich schon bis zu den Fußgelenken in Blut stehe. Ich wate durch das Blut - auch mein Mantel verfärbt sich, er trinkt und trinkt – rot, ganz rot, rot und tausendmal roter als Rot. Ich lausche. In meinen Ohren dröhnt es. Aber da ist doch noch was! Es pocht! Es pocht doch noch immer! Ich drehe mich um. Da, an der hinteren Wand auf Augenhöhe: Zwei Kröten. Eine braun. Eine blau. Zwei pulsierende Beutel. Ich richte die Stahlarmbänder auf sie – kein Trugbild. Jetzt schnell das Zepter! Ich greife in meine Manteltasche. Kein Zepter. Nur ein Stück Papier, das ich hastig auseinanderfalte. Schießzauber: Wenn man eine Kröte findet, so nimmt man eine Nähnadel mit einem karmesinroten Seidenfaden, sticht ihr durch die Augen, zieht den Faden hindurch und tut von diesem Faden ein wenig in die Kugeln, dann trifft jede davon. Ich schließe die Augen, hole weit aus und schleudere den Zylinder mit aller Kraft in Richtung Wand. Zersplitterndes Glas. Dann eine Drehorgel, Geschrei von weither, schlurfende Schritte auf staubigem Boden, der Geruch von gebrannten Mandeln, Kunstblumen und Sternscheiben. Drei rote Herzen auf weißem Grund. Ich lade durch. Dreimal Rot. Zwei getroffen. Eines pocht.








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